Ilium
von den langen Haaren zu den Brüsten hinab. »Vielleicht hast du das schon bemerkt.«
Achilles marschierte vor ihr auf und ab, ballte mehrmals die Hände zu Fäusten, hieb in die Luft und spreizte die Finger dann wieder. »Das ergibt keinen Sinn! Nachdem Athene und ihr göttlicher Vater mich so weit gebracht, mir so oft bei meinen Eroberungen geholfen haben, beleidigen sie mich nun so.«
»Sie schämen sich deiner, Achilles.«
Der Männertöter blieb wie angewurzelt stehen und wandte ihr ein blasses, erstarrtes Gesicht zu. Er sah aus, als hätte er eine heftige Ohrfeige bekommen. »Sie schämen sich meiner? Schämen sich des fußschnellen Achilles, des Sohnes von Peleus und der Göttin Thetis? Des Enkels von Aiakos?«
»Ja«, sagte seine Mutter. »Zeus und die geringeren Götter, darunter auch Athene, haben die sterblichen Menschen immer verachtet, selbst euch Helden. Von ihrem Aussichtspunkt auf dem Olymp aus gesehen, seid ihr alle weniger als Insekten, euer Leben ist hässlich, brutal und kurz, und euer Dasein ist nur gerechtfertigt, weil ihr sie durch euer Sterben amüsiert. Indem du also schmollend in deinem Zelt gesessen hast, während sich das Schicksal des Krieges entschied, hast du die drittgeborene Tochter des Zeus und auch den Göttervater selbst verärgert.«
»Sie haben Patroklos umgebracht!«, brüllte Achilles und trat von der Göttin zurück. Seine bloßen Füße hinterließen Spuren im nassen Sand, die von der nächsten heranrollenden Welle weggewaschen wurden.
»Sie glauben, dass du ein zu großer Feigling bist, um seinen Tod zu rächen«, sagte Thetis. »Sie lassen seine Leiche auf den Höhen des Olymp als Futter für die Krähen und Geier liegen.«
Achilles stöhnte und sank auf die Knie. Er grub große, nasse Sandklumpen aus und klatschte sie sich an die nackte Brust. »Mutter, warum erzählst du mir das jetzt? Wenn du gewusst hast, welche Verachtung die Götter für mich empfinden, warum hast du mir dann nicht schon früher davon erzählt? Du hast mich immer gelehrt, Zeus zu dienen und ihn zu verehren. Und der Göttin Athene zu gehorchen.«
»Ich habe immer gehofft, die anderen Götter würden unseren sterblichen Kindern Gnade gewähren«, sagte Thetis. »Aber Zeus’ kaltes Herz und Athenes Kriegslust haben den Sieg davongetragen. Das Menschengeschlecht interessiert sie nicht mehr. Nicht einmal als Zeitvertreib. Und wir wenigen Unsterblichen, die wir uns für euch einsetzen, sind auch nicht sicher vor Zeus’ Zorn.«
Achilles stand auf und trat drei Schritte auf seine Mutter zu. »Mutter, du bist eine Unsterbliche. Zeus kann dir nichts anhaben.«
Thetis lachte humorlos. »Der Vater kann töten, wen und was er will, mein Sohn. Selbst eine Unsterbliche. Noch schlimmer, er kann uns in die Düsternis des Tartaros verbannen, uns in diese Höllengrube werfen, so wie er es mit seinem eigenen Vater, Kronos, und seiner weinenden Mutter, Rhea getan hat.«
»Dann bist du also in Gefahr«, sagte Achilles benommen. Er schwankte wie ein Mann, der zu viel getrunken hat, oder wie ein Matrose auf dem schaukelnden Deck eines kleinen Schiffes in stürmischer See.
»Ich bin verloren«, sagte Thetis. »Und du auch, mein Kind, außer wenn du etwas tust, das kein Sterblicher – nicht einmal der kühne Herakles – jemals versucht hat.«
»Was, Mutter?« Im Sternenlicht zeichnete sich eine verwirrende Abfolge von Gefühlen auf Achilles’ Gesicht ab: erst Verzweiflung, dann Wut, und schließlich etwas noch Stärkeres als Wut.
»Die Götter zu stürzen«, flüsterte Thetis. Die Worte waren über dem Rauschen der Brandung kaum zu hören. Achilles trat noch näher an sie heran, den Kopf schief gelegt, als glaubte er seinen Ohren nicht zu trauen. »Die Götter zu stürzen«, wiederholte sie mit leiser Stimme. »Den Olymp zu erstürmen. Athene zu töten. Zeus zu entthronen.«
Achilles taumelte zurück. »Ist das denn möglich?«
»Nicht, wenn du allein handelst«, sagte Thetis. Weiße Wellen strudelten um ihre Füße. »Aber wenn du deine Danaer- und Achäerkrieger mitbringst …«
»Agamemnon und sein Bruder herrschen heute über die Achäer, die Danaer und ihre Verbündeten«, fiel Achilles ihr ins Wort. Er schaute sich zu den Feuern um, die an dem kilometerlangen Strand brannten, und blickte dann zu den weitaus zahlreicheren trojanischen Wachtfeuern unmittelbar hinter dem Verteidigungsgraben hinüber. »Und die Danaer und Achäer stehen heute an der Schwelle der Niederlage, Mutter. Mag sein, dass die
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