Ilium
dem sonnigen Nachmittagshügel in Indiana (wie ich immer noch hoffe) ins Dasein geqtet war, war von Nightenhelser nichts zu sehen gewesen. Ich ließ Patroklos rasch ins Gras sinken – ich bin nicht homophob, aber es ist schon ein komisches Gefühl, einen nackten Mann mit sich herumzuschleifen – und rief Nightenhelsers Namen in den Wald und zum Fluss hinunter, bekam aber keine Antwort. Vielleicht hatten ihn die damaligen Ureinwohner mittlerweile skalpiert oder in ihren Stamm aufgenommen. Vielleicht war er aber auch gerade im Wald auf der anderen Seite des Flusses und sammelte Nüsse und Beeren.
Patroklos stöhnte und bewegte sich.
Ist es moralisch vertretbar, einen halb bewusstlosen, nackten Mann in einem solch fremden Land zurückzulassen? Würde ihn ein Bär töten? Wohl kaum. Eher würde Patroklos den armen Nightenhelser finden und töten, auch wenn der Grieche nackt und unbewaffnet, Keith hingegen immer noch mit Stoßpanzerung, Taserstab und Schwertrequisite ausstaffiert war. Ja, ich würde mein Geld auf Patroklos setzen. Ist es moralisch vertretbar, einen stinksauren Patroklos im selben Beerensammelgebiet zurückzulassen wie einen friedliebenden Akademiker?
Ich hatte nicht die Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich prüfte den Energievorrat des Morpharmbands, stellte fest, dass er fast erschöpft war, und qtete zur Küste von Ilium zurück. Durch meinen Auftritt als Athene hatte ich ein wenig darüber gelernt, wie man zur Göttin wird, und für Thetis würde ich nicht so viel Energie brauchen wie für Zeus’ Tochter. Mit ein wenig Glück, dachte ich, würde die Morphausrüstung noch so lange funktionieren, dass ich meine Szene mit Achilles spielen konnte und noch ein bisschen Energie für Hektors Familie übrig behielt.
Und so war es. Ich habe noch ein bisschen Energie übrig. Ich kann noch ein letztes Mal morphen.
Hektors Familie. Was ist nur aus mir geworden?
Ein Mann auf der Flucht, denke ich, während ich mir den Hades-Helm aufsetze und durch den Sand stapfe. Ein verzweifelter Mann.
Wird das QT-Medaillon auch bald erschöpft sein? Enthält der Taser noch eine weitere Ladung, falls ich sie in Ilium brauche?
Ich werde es bald erfahren. Wäre es nicht eine Ironie, wenn es mir gelänge, Achilles und Hektor für meine Sache zu gewinnen, die Quantenteleportationsenergie aber dann nicht mehr reichen würde, um sie oder mich zum Olymp zu befördern?
Darüber mache ich mir später Gedanken. Über diesen ganzen Mist mache ich mir später Gedanken.
Jetzt – um vier Uhr früh – habe ich zunächst einmal eine Verabredung mit Hektors Frau und seinem kleinen Sohn.
35
12.000 Meter über dem Tharsis-Plateau
»Was hat Proust denn über Ballons zu sagen?«
»Nicht viel«, antwortete Orphu von Io. »Er war überhaupt kein großer Freund des Reisens. Und Shakespeare? Was sagt der zu Ballons?«
Mahnmut ging darüber hinweg. »Ich wünschte, du könntest das sehen.«
»Das wünschte ich auch«, sagte Orphu. »Beschreib mir alles.«
Mahnmut blickte nach oben. »Wir sind jetzt in so großer Höhe, dass der Himmel über uns fast schwarz ist. Weiter entfernt färbt er sich erst dunkelblau und nimmt dann am eindeutig gekrümmten Horizont ein helleres Blau an. In beiden Richtungen sehe ich die Dunstschicht der Atmosphäre. Unter uns ist es noch bewölkt – das frühmorgendliche Licht verleiht den Wolken einen goldenen und rosafarbenen Glanz. Hinter uns ist die Wolkendecke aufgerissen, und ich sehe das blaue Wasser und die roten Klippen der Valles Marineris, die sich bis zum östlichen Horizont erstrecken. Im Westen, unserer Fahrtrichtung, bedecken die Wolken den größten Teil des Tharsis-Plateaus – es sieht so aus, als würden sie sich entlang des ansteigenden Terrains am Boden festklammern –, aber die drei näheren Vulkane durchstoßen die goldenen Wolken. Arsia Mons ist am weitesten links, dann kommt Pavonis Mons, dann Ascraeus Mons weiter rechts, im Norden. Sie sind alle leuchtend weiß, Schnee und Eis, die im Morgenlicht glänzen.«
»Kannst du den Olympus schon sehen?«, fragte Orphu.
»O ja. Er ist zwar am weitesten entfernt, überragt aber trotzdem alles andere in meinem Blickfeld. Der Olympus Mons erhebt sich über die westliche Krümmung des Planeten. Er befindet sich zwischen Pavonis und Ascraeus, ist aber eindeutig weiter weg. Eis und Schneefelder färben ihn ebenfalls weiß, aber der Gipfel ist schneefrei und rot im Sonnenaufgang.«
»Siehst du Noctis Labyrinthus, wo wir die Zeks
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