Ilium
mir am nächsten steht, Laodike, Hekabes Tochter.
Helena sagt: »Die Verzierungen am silbernen Griff und auf der Rückseite des Spiegels ähneln denen am Kamm der Göttin, soweit ich mich erinnere, aber …«
Sie verstummt, als Laodike nach Luft schnappt und den Spiegel beinahe fallen lässt. Die Priesterin, Theano, hebt ihn auf, schaut hinein, erbleicht und gibt ihn Andromache. Hektors Gattin schaut hinein und errötet. Kassandra nimmt ihn Andromache ab, hebt ihn hoch, schaut hinein und schreit erneut auf.
Hekabe reißt Kassandra den Spiegel aus der Hand und blickt sie finster an. Ich sehe sofort, dass die beiden Frauen sich nicht ausstehen können, und ich erinnere mich, warum – Kassandra, die von Apollo die Gabe der Weissagung verliehen bekam, hat König Primaos gedrängt, Hekabes Kind, Paris, bei der Geburt töten zu lassen. Von Kindesbeinen an hat Kassandra vorausgesehen, welche Katastrophe der Raub der Helena und der darauf folgende Krieg verursachen würde. Doch Apollos Geschenk der Prophezeiung war traditionsgemäß von dem Fluch begleitet, dass niemand ihr jemals Glauben schenken würde.
Jetzt schaut Hekabe in den Spiegel. Ihr fällt das Kinn herunter.
»Was ist?«, frage ich. Offenbar stimmt etwas nicht mit dem Spiegel.
Helena nimmt Hektors Mutter den Spiegel ab und reicht ihn mir. »Siehst du, Hock-en-bär-iihh?«
Ich schaue in das Glas. Mein Spiegelbild ist … seltsam. Ich bin es, aber auch nicht. Mein Kinn ist stärker, meine Nase kleiner, meine Augen sind kühner, meine Wangenknochen höher, meine Zähne weißer …
»Habt ihr das alle gesehen?«, frage ich. »Dieses idealisierte Spiegelbild von euch selbst?«
»Ja«, sagt Helena. »Aphrodites Spiegel zeigt nur Schönheit. Wir haben uns selbst als Göttinnen gesehen.«
Ich kann mir Helena nicht schöner vorstellen, als sie bereits ist, aber ich nicke und berühre die Spiegelfläche. Es ist kein Glas. Sie fühlt sich weich und elastisch an, eher wie der LCD-Bildschirm eines Laptops. Vielleicht ist sie das auch, und unter der verzierten Rückseite könnten leistungsfähige Mikrochips und Video-Morphing-Programme sitzen, die Algorithmen der Symmetrie, der idealisierten Proportionen und anderer Elemente wahrnehmbarer menschlicher Schönheit ausführen.
»Hock-en-bär-iihh«, sagt Helena, »ich möchte dir zwei weitere Frauen vorstellen, die wir hierher geholt haben, um zu entscheiden, ob du die Wahrheit sprichst. Diese junge Frau hier ist Kassandra, die Tochter des Priamos. Die andere Frau ist Herophile, ›die Geliebte der Hera‹, die älteste der Sibyllen und Priesterin von Apollo Smintheus. Herophile war es, die vor so vielen Jahren Hekabes Traum gedeutet hat.«
»Was für ein Traum war das?«, frage ich.
Hekabe, die Herophile und Kassandra offenbar nicht ansehen will, sagt: »Als ich mein zweites Kind, Paris, unter dem Herzen trug, träumte mir, ich hätte einen brennenden Scheit geboren, dessen Feuer sich auf ganz Ilium ausbreitete und es bis auf die Grundmauern niederbrannte. Und dieses Kind wurde zu einer tobenden Erinnye – manche sagen, ein Kind des Kronos, andere meinen, die Tochter von Phorkys, wieder andere halten es für den Sprössling von Hades und Persephone –‚ aber alle erkennen an, dass es höchstwahrscheinlich die Tochter der tödlichen Nacht war. Diese Erinnye des Feuers hatte keine Flügel, aber sie ähnelte den Harpyien. Ihr Atem roch schweflig. Ein giftiges Sekret rann ihr aus den Augen. Ihre Stimme war wie das Blöken erschrockener Rinder. In ihrem Gürtel trug sie eine Peitsche mit messingbeschlagenen Riemen. Sie hielt eine Fackel in einer Hand und eine Schlange in der anderen, ihr Heim war in der Unterwelt, und sie war geboren, um jedes Unrecht zu rächen, das den Müttern je angetan wurde. Ihre Ankunft wurde von allen Hunden Iliums verkündet, die bellten, als hätten sie Schmerzen.«
»Wow«, sage ich. »Das ist ja ein toller Traum.«
»Ich sah in der Erinnye das Kind, das später Paris genannt wurde«, sagt die alte Hexe namens Herophile. »Kassandra sah dies ebenfalls und riet, den kleinen Jungen sofort zu töten, wenn er aus dem Mutterleib kam.« Die alte Priesterin bedachte Hekabe mit einem vernichtenden Blick. »Unser Rat wurde missachtet.«
Helena tritt im wahrsten Sinne des Wortes zwischen die Frauen. »Alle hier, Hock-en-bär-iihh, haben Visionen gehabt, in denen Troja niedergebrannt wurde. Aber wir wissen nicht, welche unserer Visionen nur aus der Angst um uns selbst, unsere Kinder und Gatten
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