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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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erwachsen und welche auf einer echten, von den Göttern verliehenen Sehergabe beruhen. Darum müssen wir entscheiden, wie es sich bei deinen verhält. Kassandra hat Fragen an dich.«
    Ich drehe mich zu Kassandra um. Sie ist blond und anorexisch, aber irgendwie trotzdem verblüffend schön. Kassandras Fingernägel sind abgebissen und blutig, und ihre Finger zucken und verschränken sich ständig. Sie kann nicht stillstehen. Ihre Augen sind ebenso rot gerändert wie ihre Fingernägel. Ihr Anblick erinnert mich an Fotos hinreißender Filmstarlets, die wegen ihrer Kokainsucht auf Entziehungskur sind.
    »Ich habe nicht von dir geträumt, schwach aussehender Mann«, sagt sie.
    Ich ignoriere die Beleidigung und schweige.
    »Aber ich frage dich dies«, fährt sie fort. »Im Traum erschienen mir König Agamemnon und seine Königin Klytämnestra einmal als großer königlicher Bulle und Kuh. Was sagt dir dieser Traum, o Prophet?«
    »Ich bin kein Prophet«, erwidere ich. »Eure Zukunft ist nur meine Vergangenheit. Aber du siehst Agamemnon als Bullen, weil er bei seiner Heimkehr nach Sparta wie ein Ochse geschlachtet werden wird.«
    »In seinem eigenen Palast?«
    »Nein.« Ich komme mir vor wie in der Feuerprobe der mündlichen Prüfungen am Hamilton College, der Alma Mater, an der ich mein Grundstudium absolviert habe. »Agamemnon wird im Haus des Aigisthos sterben.«
    »Von wessen Hand? Auf wessen Wunsch?«
    »Klytämnestras.«
    »Aus welchem Grund, o Nichtprophet?«
    »Ihr Zorn darüber, dass Agamemnon ihre Tochter, Iphigenie, geopfert hat.«
    Kassandra starrt mich an, nickt aber den anderen Frauen kaum merklich zu. »Und was träumst du von mir und meiner Zukunft, o Seher?«, fragt sie sarkastisch.
    »Du wirst hier in diesem Tempel brutal geschändet werden«, sage ich.
    Die Frauen halten allesamt den Atem an. Ich frage mich, ob ich zu weit gegangen bin. Nun, diese Hexe will die Wahrheit wissen, also kriegt sie auch die Wahrheit zu hören.
    Kassandra scheint nicht aus der Fassung zu geraten; sie wirkt geradezu erfreut. Mir wird klar, dass die junge Prophetin diese Vergewaltigung fast ihr ganzes Leben lang gesehen hat. Niemand hat auf ihre Warnungen gehört. Es muss erfrischend für sie sein, dass jemand anders ihre Vision bestätigt.
    Aber ihre Stimme klingt alles andere als erfreut, als sie spricht. »Wer wird mich in diesem Tempel schänden?«
    »Ajax.«
    »Der kleine oder der große Ajax?« Kassandra wirkt neurotisch und nervös, ist aber auch sehr hübsch in ihrer Verletzlichkeit.
    »Der kleine Ajax«, sage ich. »Ajax aus Lokris.«
    »Und weshalb bin ich oben in diesem Tempel, kleiner Mann, als der kleine Ajax aus Lokris mich schändet?«
    »Du versuchst, das Palladion zu retten oder zu verstecken«, antworte ich mit einer Kopfbewegung zu der kleinen Statue, die keine drei Meter von mir entfernt steht.
    »Und kommt der kleine Ajax ungestraft davon?«
    »Er ertrinkt auf der Heimfahrt, als sein Schiff an den gyräischen Felsen Schiffbruch erleidet. Die meisten Gelehrten betrachten das als Zeichen von Athenes Zorn.«
    »Wird sie Ajax von Lokris aus Zorn über meine Schändung das Verderben bringen, oder um die Entweihung ihres Tempels zu rächen?«, will Kassandra wissen.
    »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich Letzteres.«
    »Wer wird außer mir noch oben im Tempel sein, wenn ich geschändet werde?«
    Hier muss ich eine Sekunde nachdenken. »Odysseus«, sage ich schließlich, und meine Stimme hebt sich am Ende wie die eines Studenten, der hofft, dass seine Antwort richtig ist.
    »Wer außer Odysseus, dem Laertessohn, wird in dieser Nacht noch Zeuge meiner Beschmutzung sein?«
    »Neoptolemos«, sage ich schließlich.
    »Achilles’ Sohn?«, unterbricht Theano mit höhnischem Lächeln. »Er ist neun Jahre alt und lebt in Argos.«
    »Nein«, sage ich. »Er ist siebzehn und ein wilder Krieger. Sie werden ihn nach Achilles’ Tod von Skyros herholen, und Neoptolemos wird mit Odysseus im Bauch des großen Holzpferds sein.«
    »Des Holzpferds?«, fragt Andromache.
    Aber ich erkenne an Helenas, Herophiles und Kassandras geweiteten Pupillen, dass diese Frauen Visionen von dem Pferd gehabt haben.
    »Hat dieser Neoptolemos noch einen anderen Namen?«, fragt Kassandra. Sie hat den Ton und die Leidenschaftlichkeit einer engagierten Staatsanwältin.
    »Künftige Generationen werden ihn unter dem Namen Pyrrhos kennen.« Ich versuche, mich an Details aus den BD-Scholien, aus den Werken der zyklischen Dichter, aus Proklos’ Cypria und

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