Ilium

linken Arm.
    Am blauen Himmel über dem Gipfel des Olympus Mons wimmelte es von Dutzenden fliegender Streitwagen, die von Göttern und Göttinnen gelenkt wurden. Eine der Maschinen stieß nun herab und sauste zehn Meter über dem Dach dahin, offenkundig in der Absicht, Mahnmut unter ihren Rädern zu zermalmen. Zu spät erkannte Mahnmut, dass er vergessen hatte, die Kapuze des Hades-Helms aufzusetzen. Jeder einzelne der suchenden Götter über ihm konnte ihn sehen.
    Unter Einsatz der gesamten gespeicherten Energie in seinem System – jeden Gedanken an Wiederaufladung sparte er sich für einen späteren Zeitpunkt auf – spannte er seine Federn und sprang erneut, schoss mitten durch die holografischen Pferde und trat der überraschten Göttin voll gegen die Brust. Sie flog mit rudernden weißen Armen rücklings vom Streitwagen und landete hart auf dem Dach der großen Halle der Götter.
    Mahnmut verbrauchte drei Zehntel einer Sekunde damit, das virtuelle Display über der vorderen Reling des Streitwagens zu studieren, dann steckte er seine Manipulatoren in die Matrix und legte den Streitwagen in eine scharfe Rechtskurve. Andere Streitwagen mit laut rufenden Göttern darin gingen ebenfalls in die Kurve, tauchten herab oder stiegen empor, um ihm den Weg abzuschneiden. Es würde kein Entkommen aus dem Luftraum des Olympus geben, aber Mahnmut hatte nicht vor, auf diesem Weg zu fliehen.
    Fünf Streitwagen kamen näher, und die Luft war voller Titanpfeile – Pfeile! –, als Mahnmut über den Rand des riesigen Caldera-Sees hinwegflog. Er packte den Apparat und sprang im selben Moment, als der erste von Apollos Pfeilen seinen Streitwagen traf. Die Maschine explodierte nur Meter über ihm, und Mahnmut fiel inmitten von schmelzendem Gold und auflodernden Energiewürfeln zum Wasser hinunter. In den Sekunden vor seinem Aufschlag regnete es Mikroschaltkreise. Sein Tiefensonar sagte ihm, dass die Caldera unter der Wasseroberfläche mehr als zweitausend Meter tief war.
    Das könnte reichen, dachte der kleine Moravec. Dann schlug er ins Wasser, aktivierte seine Schwimmflossen, umklammerte den Apparat mit einem Arm und tauchte tief hinab.
     

45
Die Ebene von Ilium, Ilium
    Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht sofort zurückkehre, um den kleinen Roboter zu holen, aber hier ist gerade einiges los.
    Die Wachen führen mich zu einem Achilles, der sich für den Kampf rüstet, umgeben von den Anführern, die er von Agamemnon übernommen hat – Odysseus, Diomedes, dem alten Nestor, dem großen und kleinen Ajax –, dem üblichen Team, abgesehen von den Atriden, Agamemnon und Menelaos. Kann es wahr sein, wie Ares oben lauthals behauptet hat, dass Achilles König Agamemnon getötet und damit dessen Gemahlin, Klytämnestra, ihrer blutigen Rache und hundert künftige Stückeschreiber ihres Themas beraubt hat? Ist Kassandra über Nacht ihr Schicksal erspart geblieben?
    »Wer, im Hades, bist du?«, knurrt der Männertöter, der fußschnelle Achilles, als der Feldwebel mich ins Innere seines Lagers führt. Erneut wird mir klar, dass sie nur Thomas Hockenberry vor sich sehen, mit Koteletten und hängenden Schultern, starrend vor Schmutz, ohne Umhang, Schwert und Schwebegeschirr, einen schlampig aussehenden Fußsoldaten mit einem Brustharnisch aus matter Bronze.
    »Ich bin der Mann, von dem deine Mutter, die Göttin Thetis, gesagt hat, er würde dich zuerst zu Hektor und dann zum Sieg über die Götter führen, die Patroklos getötet haben«, erkläre ich.
    Als sie das hören, treten die diversen Helden und Hauptleute einen Schritt zurück. Achilles hat ihnen offensichtlich gesagt, dass Patroklos tot ist, aber vielleicht hat er sie nicht alle in seinen Plan eingeweiht, dem Olymp den Krieg zu erklären.
    Achilles zieht mich hastig beiseite, weg von der lauschenden Runde müder Krieger. »Woher weiß ich, dass du derjenige bist, von dem meine Mutter, die Göttin Thetis, gesprochen hat?«, fragt der junge Gottmensch. Achilles sieht heute älter aus als gestern, als wären über Nacht neue Falten in sein junges Gesicht gemeißelt worden.
    »Ich werde es dir zeigen, indem ich dich dorthin bringe, wohin wir uns begeben müssen«, sage ich.
    »Zum Olymp?« Seine Augen sind nicht ganz normal.
    »Am Ende, ja«, sage ich leise. »Aber wie dir deine Mutter gesagt hat, musst du zuvor mit Hektor Frieden schließen und dich mit ihm zusammentun.«
    Achilles verzieht das Gesicht und spuckt in den Sand. »Ich bin heute nicht fähig, Frieden zu