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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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sind. Das Fenster steht offen, und der Klang des Straßenverkehrs dringt herein – Ochsenkarren, Pferde und ihr klirrendes Geschirr, Marktgeschrei, die schlurfenden Schritte Aberhunderter Fußgänger auf dem Kopfsteinpflaster – und bildet ein beruhigendes Hintergrundgeräusch.
    Die Quantenteleportation scheint Achilles nicht weiter verwirrt zu haben. Mir wird klar, dass das Leben des jungen Mannes schon immer von göttlicher Magie erfüllt gewesen ist. Großer Gott, er wurde von einem Zentauren erzogen und unterrichtet! Jetzt, wo er weiß, dass er sich im tiefsten Innern der Höhle des Löwen in Ilium befindet, legt er nur die Hand ans Heft seines Schwertes, ohne es zu ziehen, und blickt mich an, als wollte er fragen: »Und nun?«
    Die Antwort kommt aus dem Raum nebenan, dem Kinderzimmer. Ein Mann schreit in schrecklichem Schmerz auf. Ich erkenne ihn an der Stimme – es ist Hektor –, aber ich habe ihn noch nie derart stöhnen und schreien gehört. Auch Frauen weinen und klagen. Hektor schreit erneut auf, als hätte er tödliche Schmerzen.
    Ich verspüre keinerlei Drang, dieses Kinderzimmer zu betreten, aber Achilles nimmt mir die Entscheidung ab. Er geht voraus. Seine Hand umklammert noch immer das Heft des halb gezogenen Schwertes. Ich folge ihm.
    All meine Trojanerinnen sind da – Helena, Hekabe, Laodike, Theano und Andromache –, aber sie drehen sich nicht einmal um, als Achilles und ich das Kinderzimmer betreten. Auch Hektor ist da, in seiner staubigen, blutigen Kriegermontur, aber er blickt nicht einmal zu seinem Erzfeind auf, als dieser stehen bleibt und auf das Objekt der allgemeinen entsetzten Aufmerksamkeit starrt.
    Die handgeschnitzte Wiege des Babys ist umgestürzt. Das Holz der Wiege, der Marmorboden und das Mückennetz sind mit Blut bespritzt. Der Körper des kleinen, noch kein Jahr alten Skamandrios, auch liebevoll Astyanax genannt, liegt auf dem Fußboden – in Stücke gehackt. Der Kopf des Babys fehlt. Die Arme und Beine sind abgeschnitten worden. Eine dicke kleine Hand ist noch dran, die andere ist am Handgelenk abgetrennt. Die königlichen Windeln des Babys, auf deren Vorderseite Hektors Familienwappen gestickt ist, sind blutgetränkt. In der Nähe liegt der Leichnam der Amme, die ich schon auf den Zinnen gesehen habe und die noch in der vergangenen Nacht hier in diesem Gemach friedlich geschlafen hat. Sie sieht aus, als wäre sie von einer riesigen Dschungelkatze zerfleischt worden; ihre Arme sind noch immer zur umgeworfenen Wiege gereckt, als wäre sie bei dem Versuch gestorben, den Säugling zu beschützen.
    Dienerinnen jammern und schreien im Hintergrund, aber Andromache spricht. Ihre Stimme klingt wie betäubt, aber auch geradezu beängstigend ruhig. »Das haben die Göttinnen Athene und Aphrodite getan, mein Herr und Gemahl.«
    Hektor blickt auf, und sein Gesicht unter dem Helm ist eine schreckliche Maske des schieren Entsetzens. Sein Mund steht offen, ein Speichelfaden hängt herab. Seine Augen sind groß und rot gerändert. »Athene? Aphrodite? Wie kann das sein?«
    »Ich kam vor einer Stunde aus meinem Gemach an die Tür, als ich sie mit der Amme sprechen hörte«, sagt Andromache. »Pallas Athene selbst erklärte mir, diese Opferung unseres geliebten Skamandrios sei Zeus’ Wille. ›Ein jähriges Kalb als Schlachtopfer‹, so lauteten die Worte der Göttinnen. Ich versuchte mit ihnen zu diskutieren, ich weinte und flehte, doch Aphrodite gebot mir zu schweigen und sagte, den Göttern gefalle es gar nicht, wie der Krieg verlaufe, und sie seien sehr unzufrieden darüber, dass du letzte Nacht nicht die schwarzen Schiffe verbrannt habest. Nun nähmen sie zur Warnung dieses Opfer.« Sie macht eine Handbewegung zu dem hingeschlachteten Kind auf dem Fußboden. »Ich schickte die schnellsten Diener aus, dich vom Schlachtfeld zurückzuholen, und rief diese Frauen, meine Freundinnen, um mich in meinem Kummer zu trösten, bis du kamst, o Gemahl. Wir haben diesen Raum bis zu deiner Ankunft nicht mehr betreten.«
    Hektor wendet uns sein verstörtes Gesicht zu, aber sein Blick geht einfach über den stummen Achilles hinweg. Ich glaube nicht, dass er in diesem Moment eine Kobra zu seinen Füßen gesehen hätte. Der Schock hat ihn geblendet. Er sieht nur noch Skamandrios’ Leichnam – enthauptet, blutbesudelt, eine kleine Hand zur Faust geschlossen. Dann würgt Hektor hervor: »Andromache, Gattin, Geliebte, weshalb liegst nicht auch du tot neben der Amme am Boden, gleichermaßen gefallen beim

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