Ilium
Versuch, unser Kind vor dem Zorn der Unsterblichen zu retten?«
Andromache senkt den Kopf und weint stumm. »Athene hat mich hinter einer unsichtbaren Wand an der Tür zurückgehalten, während die beiden mit ihrer göttlichen Macht diese Tat verübt haben«, sagt sie, und Tränen fallen aufs Oberteil ihres Gewands. Ich sehe jetzt, dass ihr Gewand blutbefleckt ist, wo sie, auf den Knien liegend, die Überreste ihres abgeschlachteten Kindes an sich gedrückt haben muss. So irrelevant das in diesem Augenblick ist, ich denke daran, wie ich Jackie Kennedy an jenem lange zurückliegenden Novembertag im Fernsehen gesehen habe, als ich noch ein Teenager war.
Hektor macht keine Anstalten, seine Frau zu umarmen oder zu trösten. Das Klagegeheul der Dienerinnen wird höher, aber Hektor schweigt eine Minute, ehe er seinen zernarbten, muskulösen Arm hebt, eine mächtige Faust ballt und mit dem Blick zur Decke hervorstößt: »Dann fordere ich euch Götter zum Kampf heraus! Von diesem Moment an, Athene, Aphrodite, Zeus – all ihr Götter, denen ich gedient und die ich geehrt habe, für die ich in all diesen Jahren sogar mein Leben gegeben hätte –, ihr seid meine Feinde.« Er schüttelt die Faust.
»Hektor«, sagt Achilles.
Alle Köpfe fahren herum. Dienerinnen heulen erschrocken auf. Helena schlägt in einer perfekten Vorspiegelung von Überraschung die Hände vor den Mund. Hekabe stößt einen Schrei aus.
Hektor zieht sein Schwert und fletscht mit einer Miene, die fast an Erleichterung grenzt, die Zähne. Hier ist jemand, an dem ich meine Wut abreagieren kann. Hier ist jemand, den ich töten kann. Ich kann ihm seine Gedanken am Gesicht ablesen.
Achilles hebt beide Handflächen. »Hektor, Bruder im Kummer. Ich bin heute hier, um deinen Kummer zu teilen und dir meinen rechten Arm im Kampf anzubieten.«
Hektor hat sich bereit gemacht, auf den Männertöter loszustürmen, aber jetzt erstarrt der trojanische Held. Sein Gesicht verwandelt sich in eine Maske der Verwirrung.
»Vergangene Nacht«, sagt Achilles, die schwieligen Handflächen immer noch erhoben, um seine leeren Hände zu zeigen, »kam Pallas Athene in mein Zelt im Myrmidonenlager und tötete meinen liebsten Freund – Patroklos, er starb von ihrer Hand. Sein Körper wurde auf den Olymp gebracht und dort den Aasvögeln vorgeworfen.«
Hektor hält noch immer sein Schwert in der Hand. »Hast du es mit eigenen Augen gesehen?«
»Ich habe mit ihr gesprochen und es selbst miterlebt«, bestätigt Achilles. »Es war die Göttin. Sie hat Patroklos genauso niedergestreckt wie heute deinen Sohn – und aus denselben Gründen. Sie hat sie mir selbst genannt.«
Hektor senkt den Blick auf seine Schwerthand, als hätten ihn die Waffe und sein Arm im Stich gelassen.
Achilles tritt vor. Die Menge der Frauen teilt sich für ihn. Der achäische Männertöter streckt die rechte Hand aus, sodass sie fast die Spitze von Hektors Schwert berührt.
»Edler Hektor, Feind, Bruder im Blute«, sagt Achilles leise, »willst du gemeinsam mit mir in diesen Kampf ziehen, den wir ausfechten müssen, um unseren Verlust zu rächen?«
Hektor lässt sein Schwert fallen, sodass die Bronze klirrend auf den Marmorboden schlägt. Das Heft landet in einer Pfütze von Skamandrios’ Blut. Der Trojaner bringt kein Wort heraus. Er macht einen Schritt nach vorn, fast als wollte er angreifen, aber dann packt er ingrimmig Achilles’ Unterarm – wäre es mein Arm gewesen, er hätte ihn abgerissen – und hält ihn fest, als würde nur er ihn davor bewahren, zu Boden zu stürzen.
Während all dem, gestehe ich, zuckt mein Blick mehrmals zu Andromache, die immer noch lautlos weint, während sich auf den anderen Gesichtern mehr schockiertes Erstaunen und Verwunderung breit machen.
Hast du das getan?, frage ich Hektors Gemahlin stumm. Hast du das deinem eigenen Sohn angetan, um deinen Willen im Hinblick auf diesen Krieg durchzusetzen?
Noch während ich dies denke und voller Abscheu weiter vor Andromache zurückweiche, weiß ich, dass es die einzige Möglichkeit war. Die einzige Möglichkeit. Aber dann schaue ich auf die zerstückelten Überreste von Astyanax hinab, dem »Herrn der Stadt«, dem ermordeten Skamandrios, und ich weiche noch einen Schritt zurück. Selbst wenn ich tausend oder gar zehntausend Jahre alt würde, ich werde diese Menschen niemals verstehen.
In diesem Augenblick qtet die echte Göttin Athene, begleitet von meiner Muse und dem Gott Apollo, in die leere Hälfte des
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