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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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über den Verteidigungsgraben in die griechischen Lager zurück. Wie bei den meisten Luftangriffen in meiner Zeit war die psychologische Wirkung des Angriffs schlimmer als seine Resultate. Ich nehme an, dass es mehrere hundert Tote gibt – trojanische und achäische Krieger sowie Zivilisten in Ilium –, aber die meisten sind unverletzt davongekommen, besonders hier draußen, fern von einstürzenden Mauern und umherfliegendem Mauerwerk.
    Während ich über den unteren Teil des Batieía klettere, sehe ich den kleinen Roboter auf mich zukommen. Er zieht seinen schwebenden Krebsschalenfreund hinter sich her wie ein kleiner Junge einen besonders großen Bollerwagen. Aus irgendeinem Grund bin ich so froh, dass sie noch am Leben sind – obwohl »noch existieren« vielleicht eine bessere Formulierung wäre –‚ dass ich kurz davor bin, in Tränen auszubrechen.
    »Hockenberry«, sagt der Roboter, Mahnmut, »du bist ja verletzt. Ist es schlimm?«
    Ich berühre meine Stirn und meine Kopfhaut. Die Blutung hat fast aufgehört. »Es ist nichts.«
    »Hockenberry, die große Explosion – weißt du, was das war?«
    »Eine Atombombe«, sage ich. »Möglicherweise thermonuklear, aber ich vermute trotz ihrer Lautstärke, dass es nur eine Fissionsbombe gewesen ist. Ein bisschen größer als die Hiroshima-Bombe vielleicht. Mit solchen Dingen kenne ich mich nicht besonders gut aus.«
    Mahnmut sieht mich mit schief gelegtem Kopf an. »Woher kommst du, Hockenberry?«
    »Aus Indiana«, antworte ich, ohne nachzudenken.
    Mahnmut wartet.
    »Ich bin ein Scholiker«, sage ich noch einmal. Mir ist klar, dass er all das über die Funkverbindung, die er zuvor Engstrahl genannt hat, an seinen stummen Freund weitergibt. »Die Götter haben mich aus alten Knochen, DNA und irgendwelchen Erinnerungsfragmenten rekonstruiert, die sie meinen auf der Erde gefundenen Überresten entnommen haben.«
    »Erinnerungen aus DNA?«, sagte Mahnmut. »Das glaube ich nicht.«
    Ich wedele ungeduldig mit der Hand. »Spielt doch keine Rolle«, fauche ich. »Ich bin ein lebender Leichnam. Ich habe in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt und bin wahrscheinlich im ersten Teil des einundzwanzigsten Jahrhunderts gestorben. Von den Daten habe ich nur eine verschwommene Vorstellung. Bis vor ein paar Wochen die ersten Erinnerungen wiederkamen, hatte ich nur eine verschwommene Vorstellung von meinem früheren Leben.« Ich schüttele den Kopf. »Ich bin ein Toter auf Urlaub.«
    Mahnmut sieht mich schweigend mit diesem dunklen metallischen Streifen anstelle von Augen an. Dann nickt er verständig und tritt mir – ziemlich heftig – vors linke Schienbein.
    »Gottverdammt!«, schreie ich und hüpfe auf dem anderen Bein. »Warum hast du das getan?«
    »Mir kommst du ganz lebendig vor«, sagt der kleine Roboter. »Wie bist du aus dem zwanzigsten oder einundzwanzigsten Jahrhundert des Untergegangenen Zeitalters hierher gekommen, Hockenberry? Die meisten unserer Moravec-Wissenschaftler sind ziemlich sicher, dass solche Zeitreisen unmöglich sind, außer wenn man fast mit Lichtgeschwindigkeit herumflitzt oder zu nah an ein Schwarzes Loch kommt. Hast du eins von beidem getan?«
    »Das weiß ich nicht, und es ist ohnehin unwichtig. Schau dir das alles an!« Ich zeige auf die rauchende Stadt und das Chaos auf der Ebene von Ilium. Einige der griechischen Schiffe stechen bereits in See.
    Mahnmut nickt. Für einen Roboter ist seine Körpersprache seltsam menschlich. »Orphu fragt sich, weshalb die Götter ihren Angriff abgebrochen haben.«
    Ich werfe einen Blick auf den riesigen, ramponierten Rumpf des Dings hinter ihm. Manchmal vergesse ich, dass darin angeblich ein Gehirn ist. »Sag Orphu, dass ich es nicht weiß. Vielleicht wollen sie sich nur eine Weile an der Furcht und dem Chaos hier unten ergötzen, bevor sie uns den coup de grâce versetzen.« Ich zögere eine Sekunde. »Das ist Französisch und heißt …«
    »Ja, ich kann Französisch, leider«, sagt Mahnmut. »Orphu hat mir während des Bombardements gerade einen ziemlich irrelevanten Proust-Text auf Französisch zitiert. Was hast du jetzt vor, Hockenberry?«
    Ich schaue zum achäischen Lager hinüber. Zelte brennen, verwundete Pferde rennen voller Panik umher, Menschen laufen durcheinander, Schiffe werden für die Heimfahrt ausgerüstet, andere entfernen sich bereits von der Küste, und ihre Segel fangen den Wind. »Ich wollte Achilles und Hektor suchen«, sage ich. »Aber in diesem Durcheinander könnte es

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