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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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auch immer sich hinter diesem Sonnenbrillenstreifen in seinem Gesicht verbirgt – auf das Display des virtuellen Chronometers. »Was passiert in einer Viertelstunde, Mahnmut? Erzähl mir nicht, dass ihr beide es nicht wisst.«
    »Wir wissen es nicht«, sagt Mahnmut.
    »Ich gehe rauf, um nachzusehen, was dort los ist.« Ich umfasse das Medaillon.
    »Nimm mich mit«, bittet Mahnmut. »Ich habe den Zeitschalter eingestellt. Ich sollte dort sein, wenn sich der Apparat aktiviert.«
    Ich halte erneut inne und werfe einen Blick auf den riesigen Rumpf hinter Mahnmut. »Wirst du ihn entschärfen?«, frage ich.
    »Nein. Das war mein Auftrag – den Apparat hinzubringen und zu aktivieren. Aber wenn der Zeitschalter ihn nicht auslöst, sollte ich es eigenhändig tun.«
    »Sprechen wir hier … und sei es nur mit begrenzter Wahrscheinlichkeit … vom Ende der Welt, Mahnmut?«
    Das Zögern des Roboters sagt mir alles.
    »Du solltest noch … äh … vierzehn Minuten und dreißig Sekunden bei Orphu bleiben«, sage ich. »In seiner Verfassung könnte die Welt untergehen, ohne dass der arme Kerl es merken würde, wenn du es ihm nicht sagst.«
    »Orphu meint, dass du für einen Scholiker ziemlich komisch bist, Hockenberry. Ich finde trotzdem, dass ich mitkommen sollte.«
    »Erstens«, sage ich, »verschwendest du unsere ganze gottverdammte Zeit mit Reden. Zweitens habe ich nur einen Hades-Helm, und ich will nicht erwischt werden, weil die Götter einen Roboter neben meinem unsichtbaren Ich herlaufen sehen. Drittens … adieu.«
    Ich ziehe mir die Kapuze des Hades-Helms über den Kopf, drehe das Medaillon und verschwinde.
     
    Ich qte mitten in die große Halle der Götter.
    Sie scheinen alle hier zu sein, außer Athene und Apollo, die jetzt vermutlich mit grünen Würmern in den Augen und Achselhöhlen in den Genesungstanks schwimmen. In den paar Sekunden, die mir bleiben, bevor sich der Karren ins Schlamassel gräbt, sehe ich, dass die Götter für den Krieg gerüstet und gewappnet sind – die Halle erstrahlt von goldenen Brustharnischen, glänzenden Speeren, hohen Helmen mit Federbüschen und polierten Schilden von göttlichen Ausmaßen. Ich sehe Zeus neben seinem prächtigen Streitwagen stehen; Poseidon trägt eine dunkle Rüstung, Hermes und Hephaistos sind bis an die Zähne bewaffnet, Ares hat Apollos silbernen Bogen, Hera ist in glänzende Bronze und Gold gewandet, und Aphrodite zeigt auf mich …
    Scheiße.
    » SCHOLIKER HOCKENBERRY! «, brüllt Zeus höchstselbst und sieht mich quer durch die Halle an. » KEINE BEWEGUNG! «
    Das ist nicht nur ein zeusscher Ratschlag. Jeder Muskel, jedes Band, jede Sehne und Zelle in meinem Körper erstarrt. Ich spüre, wie mein Herz stehen bleibt. Sogar die Brown’sche Bewegung in mir hört auf. Bevor meine Hand auch nur einen Millimeter näher zum QT-Medaillon kommt, bin ich schon eine Statue.
    »Nehmt ihm den Hades-Helm, das QT-Gerät und alles andere ab«, befiehlt Zeus.
    Ares und Hephaistos springen herbei und ziehen mich vor den Göttern und Göttinnen nackt aus. Die Lederhaube wird dem finster dreinschauenden Hades zugeworfen, der in seiner exotischen schwarzen Chitin-Rüstung wie ein schrecklicher, übellauniger Käfer aussieht. Zeus tritt vor und hebt mein QT-Medaillon vom Boden auf. Er starrt es mit düsterer Miene an, als wollte er es in seiner riesigen Faust zerquetschen. Die beiden Götter haben mir unterdessen sämtliche Kleider vom Leib gerissen und mir nicht einmal meine Armbanduhr oder meine Unterhose gelassen.
    »Beweg dich!«, sagt Zeus. Nach Luft schnappend, breche ich auf dem Marmorboden zusammen und kralle die Finger in die Brust. Als mein Herz wieder zu schlagen beginnt, tut es so weh, dass ich fest davon überzeugt bin, einen Herzinfarkt zu haben. Ich schaffe es gerade noch, mich nicht vor aller Augen nass zu machen.
    »Bringt ihn weg!«, sagt Zeus und wendet mir den Rücken zu.
    Der zweieinhalb Meter große Ares, der Gott des Krieges, packt mich an den Haaren und schleift mich fort.
     

55
Äquatorialring
    »Er denkt«, zischte Calibans Stimme aus den Schatten der Klinik, »den Räsoneuren würde er schon zeigen, was ›müssen‹ heißt. Er tut, was er will, denn wozu wäre er sonst der Herr? So auch Er.«
    »Verdammt, wo kommt die Stimme her?«, fauchte Harman. Die Klinik lag weitgehend im Dunkeln. Das einzige Licht stammte von den leuchtenden Tanks, die sich der Reihe nach leerten, und Daeman streifte von der halb durchlässigen Wand zum Kannibalentisch und

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