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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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einfach nicht. Mir kommt das alles vor wie die gekünstelten Grübeleien eines Ästheten.
    Eines Ästheten? Orphu drehte einen seiner Kommunikationsstiele in den Engstrahl, während seine Manipulatoren und Flagellen damit beschäftigt waren, eine Seilverbindung zu schweißen. Für Mahnmut, der über die Heckkamera zuschaute, sah der weiße Schweißbogen wie ein Stern vor dem schwarzen Segel hinter Orphus ungeschlachter Masse aus. Mahnmut, sprichst du von Proust oder seinem Marcel-Erzähler?
    Gibt’s da einen Unterschied? Noch während er die sarkastische Frage stellte, wusste Mahnmut, dass er unfair war. Er hatte Orphu im letzten Dutzend E-Jahre Hunderte – ach was!, Tausende – von E-Mails geschickt, in denen er ihm den Unterschied zwischen dem Dichter namens »Will« in den Sonetten und dem historischen Künstler namens Shakespeare erklärt hatte. Proust – so langweilig und undurchschaubar er sein mochte – war vermutlich genauso komplex, was die Identität des Autors und der Figuren betraf.
    Orphu von Io ignorierte die Frage. Gib zu, dass dir Prousts Humor gefallen hat. In erster Linie ist er nämlich ein Humorist.
    Humor? Ich habe nicht viel Komik in dem Werk entdeckt. Diesmal meinte er es ernst. Der menschliche Humor war ihm oder den Moravecs keineswegs fremd; schon die allerersten zu eigenständiger Weiterentwicklung befähigten, nur andeutungsweise empfindungsfähigen Raumfahrtroboter, die die Menschheit vor der Rubikon-Pandemie erschaffen und losgeschickt hatte, waren auf das Verständnis von Humor programmiert gewesen. Ohne Humor wäre keine echte Zweiweg-Kommunikation mit Menschen möglich gewesen. Humor war so menschlich wie Wut, Logik, Eifersucht oder Stolz – alles Elemente, die ihm in Prousts unendlich langem Roman aufgefallen waren und die er sich gemerkt hatte. Aber Proust als Humorist und seine Protagonisten als Figuren einer Komödie? Mahnmut sah es nicht, und wenn Orphu Recht hatte, war das ein ziemlich großer blinder Fleck. Mahnmut hatte immerhin Jahrzehnte damit verbracht, den Wortspiel-Humor und die Satire in den Stücken des Barden zu suchen, und er hatte sogar die winzigsten Ironien in Shakespeares Sonetten aufgespürt.
    Hör zu, sagte Orphu, während er mit pulsierenden Steuerdüsen an einem der straffen Buckyseile zum Schiff zurückkrabbelte. Lies noch einmal diesen Abschnitt aus »Eine Liebe von Swann«. Hier bietet der der treulosen und launenhaften Odette hörige Swann sein ganzes Geschick als emotionaler Erpresser auf, um sie daran zu hindern, ohne ihn ins Theater zu gehen. Achte auf den Humor, der darin steckt, mein Freund. Er lud Text herunter.
     
    »Ich schwöre dir«, sagte er ein paar Minuten, bevor sie zum Theater aufbrach, »als ich dich bat, nicht auszugehen, wünschte ich mir für mich selbst von Herzen, du würdest ablehnen, denn ich habe heute Abend tausend andere Dinge vor, und es wäre für mich sehr schwierig und eher ärgerlich gewesen, wenn du entgegen allen Erwartungen geantwortet hättest, du gingest nicht. Aber es kommt ja nicht nur auf meine Pläne und Vergnügungen an, ich muss auch an dich denken. Du erlebst vielleicht eines Tages, dass ich mich für immer von dir trenne, und dann würdest du mir mit Recht einen Vorwurf daraus machen, dass ich dich nicht in den entscheidenen Stunden gewarnt habe, wo ich fühlte, dass ich drauf und dran war, über dich eines jener gestrengen Urteile zu fällen, denen die Liebe nicht lange standhält. Siehst du, Une Nuit de Cléopâtre (was für ein Titel!) spielt dabei an sich gar keine Rolle. Was ich aber wissen muss, ist, ob du wirklich auf einer so niedrigen geistigen Stufe stehst, ob du ein so schändliches Wesen bist, so untergeordnet in jedem Sinne, dass du auf ein Vergnügen nicht verzichten kannst. Wenn das so ist, wie könnte man dich dann lieben, denn dann bist du ja nicht einmal eine wirkliche Person, ein deutlich, eindeutig bestimmtes Geschöpf, wenn auch unvollkommen, so doch möglicherweise zu vervollkommnen? Du bist wie gestaltloses Wasser, das immer dahin rinnt, wo es nach unten geht, ohne Erinnerungsvermögen und mit dem Verstand eines Aquarienfischs, der hundertmal am Tage gegen die Scheibe stößt, die er immer wieder für Wasser hält. Begreifst du nicht, dass deine Antwort zur Folge haben wird, dass ich dich – ich will nicht sagen, auf der Stelle zu lieben aufhöre, natürlich – aber doch weniger verführerisch finde, wenn ich nämlich einsehen muss, dass du kein selbständiger Mensch bist, dass du

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