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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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tiefer stehst als alle Dinge und dich über nichts erheben kannst? Natürlich hätte ich dich lieber, ohne eine Wichtigkeit daraus zu machen, darum gebeten, auf Une Nuit de Cléopâtre (da ich ja dir zuliebe meine Lippen mit diesem unmöglichen Titel besudeln muss) zu verzichten, in der stillen Hoffnung, dass du doch gehen würdest. Da ich aber weiß, dass ich deiner Antwort solche Bedeutung beilegen und so schwerwiegende Konsequenzen daraus ziehen werde, fand ich es loyaler, dich vorher darauf aufmerksam zu machen.«
    Odette gab bereits seit ein paar Sekunden Zeichen der Betroffenheit und Unsicherheit von sich. Wenn ihr auch der eigentliche Sinn dieser Rede entging, so begriff sie doch, dass sie offenbar zu jener Art von Vorhaltungen oder Szenen gehörte, aus deren Vorwürfen und Beschwörungen sie bei ihrer Übung im Umgang mit Männern, ohne auf Einzelheiten Acht zu geben, zu schließen gelernt hatte, dass diese sie ihr nicht halten würden, wenn sie nicht verliebt in sie wären, und dass sie selbst, gerade weil sie verliebt in sie waren, nicht nötig hatte, darauf einzugehen, denn sie waren es bestimmt hinterher nur noch mehr. So hätte sie auch Swanns Erörterungen mit der größten Ruhe angehört, wenn sie nicht gesehen hätte, wie die Zeit verging, und dass sie, wenn er auch nur kurze Zeit weiterredete, wie sie ihm mit einem zärtlichen, hartnäckigen und verschämten Lächeln zu verstehen gab, »noch die Ouvertüre versäumen würde!«
     
    Im engen, luftgefüllten Kontrollraum der Dark Lady brach Mahnmut in schallendes Gelächter aus. Jetzt sah er es. Der Humor war herrlich. Beim ersten Lesen dieser Passage hatte er sich auf das menschliche Gefühl der Eifersucht und auf den offensichtlichen Versuch dieses Swann konzentriert, das Verhalten der Frau namens Odette zu manipulieren. Jetzt war es … klar.
    Danke, sagte er zu Orphu, als der sechs Meter lange, krebsförmige Moravec sich gerade in seiner Rumpfkrippe niederließ. Jetzt höre ich den Humor heraus, glaube ich. Er gefällt mir. Der Ton, die Sprache und die Struktur sind anders als bei Shakespeare, aber etwas ist – genauso.
    Die obsessive Beschäftigung mit der Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein, behauptete Orphu. Dein Shakespeare betrachtet alle Facetten des menschlichen Wesens in der Reaktion der Menschen auf Ereignisse und stößt durch Figuren, die als Handlungen definiert sind, zum tiefsten Innern vor. Prousts Figuren tauchen tief in die Erinnerung ein und entdecken dort dieselben Facetten. Vielleicht hat dein Barde mehr Ähnlichkeit mit Koros III., unserem Expeditionsleiter. Mein sanfter Proust ist mehr wie du – eingehüllt in den Kokon der Dark Lady, tauchst du in die Tiefe und erforschst die Geografie von Riffen, den harten Boden, andere Lebewesen und die ganze Welt per Echolot.
    Mahnmut dachte mehrere volle Nanosekunden lang darüber nach. Ich weiß nicht, wie dein Proust diese Frage beantwortet hat – oder vielmehr, wie er versucht hat, sie auf andere Weise als durchs Eintauchen in Erinnerungen zu beantworten.
    Nicht nur in Erinnerungen, Mahnmut, mein Freund, sondern auch in die Zeit.
    Einige Dutzend Meter entfernt, geschützt von dem nahezu unverwundbaren und undurchdringlichen Doppelrumpf seines U-Boots und des Schiffes, in dem es untergebracht war, hatte Mahnmut das Gefühl, dass der Ionier die Hand ausgestreckt und ihn auf eine persönliche – und tiefgründige – Weise berührt hatte.
    Die Zeit ist von der Erinnerung getrennt, sagte Mahnmut leise auf ihrem privaten Kanal – eigentlich redete er mit sich selbst –, aber ist die Erinnerung jemals von der Zeit getrennt?
    Genau!, dröhnte Orphu. Genau. Prousts Protagonisten – vor allem der »Ich«- oder »Marcel«-Erzähler, aber auch unser armer Swann – haben vier Chancen, das komplizierte Puzzle des Lebens zu enträtseln und zusammenzusetzen. Ihre vier Versuche schlagen fehl, aber der Geschichte selbst gelingt es irgendwie, obwohl ihre Erzähler und sogar ihr Autor scheitern!
    Mahnmut dachte eine Weile schweigend darüber nach. Er sah sich die Bilder einer Außenkamera nach der anderen an, betrachtete die komplexen Strukturen des Schiffes und sein Furcht einflößendes kreisrundes Segel »unten« in Richtung der Steinbrocken, des Gürtels. Er schaltete das Bild mit einem mentalen Befehl auf volle Vergrößerung, und da war er.
    Ein einsamer Asteroid taumelte vor der Schwärze dahin. Es bestand keine Gefahr, dass er sie treffen würde. Nicht nur, weil sich ihr Schiff 150

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