Illuminati
Schatten zu verstecken. Langdon wusste, dass sie einst die Statuen der römischen Götter beherbergt hatten, doch die heidnischen Skulpturen waren zerstört worden. Erneut stiegen Enttäuschung und ein Gefühl der Hilflosigkeit in ihm auf; hier stand er nun am ersten Altar der Wissenschaft, und der Wegweiser war verschwunden. Er fragte sich, welche Statue es gewesen sein mochte und wohin sie gezeigt hatte. Langdon konnte sich nichts Aufregenderes vorstellen, als einen Wegweiser der Illuminati zu entdecken – eine Statue, die verstohlen in die Richtung deutete, in die der Weg der Erleuchtung führte. Einmal mehr fragte er sich, wer der unbekannte Illuminati-Bildhauer gewesen sein mochte.
»Ich gehe links herum«, entschied Vittoria. »Sie nehmen die rechte Seite. Wir treffen uns auf der gegenüberliegenden Seite.«
Langdon grinste düster.
Als Vittoria gegangen war, schritt auch Langdon aus. Die Stimme des Assassinen schien in dem toten Raum ringsum widerzuhallen. Acht Uhr… jungfräuliche Opfer auf den Altären der Wissenschaft… eine mathematische Progression des Todes. Acht… neun… zehn… elf… und um Mitternacht… Langdon warf einen Blick auf die Uhr. Acht Minuten vor acht. Noch acht Minuten.
Er näherte sich der ersten Nische und kam am Grab eines der katholischen Könige von Italien vorbei. Der Sarkophag lag schief. Eine Gruppe von Besuchern schien deswegen zu rätseln. Langdon blieb nicht stehen, um es zu erklären. Christliche Gräber waren häufig so ausgerichtet, dass die Gesichter der Toten nach Osten zeigten, ohne Rücksicht auf die umgebende Architektur. Erst letzten Monat hatte Langdon noch in der Symbolologie-Vorlesung mit seinen Studenten über diesen alten Aberglauben diskutiert.
»Das ist völlig absurd!«, hatte eine Studentin in der ersten Reihe gerufen, als Langdon den Grund für die nach Osten zeigenden Gräber erklärt hatte. »Warum sollten Christen ihre Gräber der aufgehenden Sonne zuwenden? Wir sprechen vom Glauben an Christus, nicht von irgendwelchen Sonnenanbetern.«
Langdon hatte still gelächelt und war, einen Apfel kauend, vor der Tafel auf und ab gegangen. »Mr. Hitzrot«, rief er.
»Wer, ich?« Ein junger Mann, der in einer der hinteren Reihen geistesabwesend gedöst hatte, schrak hoch.
Langdon deutete auf das Poster an der Wand, auf dem ein Renaissancebild zu sehen war. »Wer ist dieser Mann, der vor Gott kniet?«
»Ah… irgendein Heiliger?«
»Brillant. Und woher wissen Sie, dass er ein Heiliger ist?«
»Er hat einen Heiligenschein?«
»Ausgezeichnet. Und an was erinnert Sie dieser goldene Heiligenschein?«
Hitzrot lächelte verlegen. »Diese ägyptischen Dinger, über die wir im letzten Semester gesprochen haben? Diese… äh, Sonnenscheiben?«
»Danke sehr, Mr. Hitzrot. Legen Sie sich wieder hin.« Langdon wandte sich an seine Hörer. »Halos entstammen, wie viele andere Gegenstände der christlichen Symbolologie, der ägyptischen Sonnenanbetung. Das gesamte Christentum ist durchsetzt mit Beispielen dafür.«
»Verzeihung«, widersprach die junge Studentin in der ersten Reihe. »Ich gehe regelmäßig zur Kirche, aber ich habe noch nie gesehen, dass dort die Sonne angebetet würde.«
»Tatsächlich nicht? Und was feiern Sie am fünfundzwanzigsten Dezember?«
»Weihnachten. Christi Geburt.«
»Und doch wurde Christus der Bibel nach im März geboren. Warum also feiert die Christenheit dieses Ereignis Ende Dezember?«
Schweigen.
Langdon lächelte. »Der fünfundzwanzigste Dezember, meine Freunde, ist der alte heidnische Feiertag der unbesiegten Sonne, des Gottes Sol Invictus Heliogabalus. Er fällt mehr oder weniger mit der Wintersonnenwende zusammen. Das ist dieser wundervolle Tag im Jahr, an dem die Sonne zurückkehrt und von wo an die Tage wieder länger werden.«
Langdon nahm einen weiteren Bissen vom Apfel.
»Aufblühende Religionen adoptieren häufig existierende Feiertage, um neuen Gläubigen den Übertritt zu erleichtern«, fuhr er fort. »Man nennt dieses Phänomen Transmutation. Es hilft den Menschen, sich an den neuen Glauben zu gewöhnen. Sie behalten ihre alten Feiertage, beten an den gleichen heiligen Orten, benutzen ähnliche Symbole… lediglich die Gottheit wird ersetzt.«
Jetzt wurde die junge Frau in der ersten Reihe richtig wütend. »Sie wollen doch wohl nicht andeuten, dass das Christentum nichts weiter ist als eine Art… eine Art Sonnenanbeterei in neuer Verpackung?«
»Nicht im Geringsten. Das Christentum hat nicht nur bei den
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