Illusion - das Zeichen der Nacht
Worten drehte Jana sich um und steuerte zielstrebig auf die Tür zu, als wollte sie wirklich gehen. Sie drückte die Klinke nach unten, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Auch Rütteln half nichts. Es war abgeschlossen.
»Das darf ja wohl nicht wahr sein«, protestierte sie und wandte sich Yadia zu, der sie gelangweilt beobachtete. »Du wagst es, mich einzusperren? Mich, eine Klanführerin? Du bist ja wohl völlig übergeschnappt.«
»Ich sorge nur dafür, dass das Gespräch vertraulich bleibt«, erklärte Yadia. »So lautet die Anweisung.«
»Jetzt reicht’s aber. Schließ die Tür auf und lass mich raus! Sonst … Unsere magischen Fähigkeiten haben zwar sehr gelitten, aber ich bin immer noch mächtig genug, um dieses dreckige Loch mitsamt dem ganzen Gebäude in die Luft fliegen zu lassen.«
Yadia lachte schallend, was Jana nur noch wütender machte. Doch dann mischte sich Argo in überraschend versöhnlichem Ton ein. »Komm, Jana, jetzt reg dich nicht auf. Du lässt dich von deinen Vorurteilen und deiner Wut hinreißen. Hör dir erst mal an, was ich zu sagen habe, es dauert nur zwei Minuten. Dann schließt Yadia dir auf und alles ist vorbei.«
Mit schmerzverzerrter Miene stand der Wächter auf und zupfte seine zerlumpte Tunika zurecht, die so alt aussah wie er selbst. Jana musterte aufmerksam sein Gesicht. Jetzt machte er sich offenbar nicht über sie lustig. Im Gegenteil, es war deutlich zu sehen, dass er litt. Argo war todkrank und das verlieh dem Geheimnis, das er ihr anvertrauen wollte, eine besondere Bedeutung.
»Na gut«, gab sie nach, »ich bin hergekommen, um dir zuzuhören, und das werde ich auch tun. Sag mir, was du mir zu sagen hast.«
»Vorher musst du bei deiner Agmar-Ehre schwören, dass du es für dich behältst.«
Jana sah ihn eindringlich an. »Das kannst du nicht von mir verlangen. So ein Schwur ist gefährlich.«
»Nur wenn du ihn brichst. Schwöre«, drängte Argo.
Jana zögerte einen Moment, aber schließlich hob sie die rechte Hand, schloss die Augen und sprach mit fester Stimme den traditionellen Agmar-Schwur. »Bei der dunklen Seite des Mondes, bei der schwarzen Tiefe des Herzens, beim geheimen Flug der Nachtvögel, beim Wort und seinen Abgründen, beim ewigen Mysterium der Symbole schwöre ich, niemandem zu verraten, was du mir gleich erzählen wirst.«
»Wenn du diesen Schwur brichst, soll Schweigen deinen Geist für immer umnebeln«, erwiderte Argo feierlich. »Dann soll mein Fluch auf dir und deinem Stamm liegen bis ans Ende aller Tage.«
Beim letzten Satz, der nicht zu dem Agmar-Ritual gehörte, lief Jana ein heftiger Schauder über den Rücken. In diesem Moment war sie froh, dass es in der Zelle so wenig Licht gab. Im Schutz der Dunkelheit würde hoffentlich niemand bemerken, wie unbehaglich ihr zumute war.
»Jetzt hast du mein Wort«, sagte sie und sah Argo erwartungsvoll an. »Nun verrat mir endlich dein Geheimnis, du hast mich schon lange genug auf die Folter gespannt.«
Für einen kurzen Moment leuchtete das müde Gesicht des Wächters in einem verzückten Lächeln auf, als wäre er wahnsinnig. »Ich mach’s kurz: Calle dei Morti 2251 Santa Croce 30135.«
Die Straße der Toten und das Heilige Kreu… . Um sich die Abfolge von Wörtern und Zahlen einzuprägen, wandte Jana instinktiv eine Technik an, die sie als Kind von ihrer Mutter gelernt hatte.
Es schien sich um eine Adresse zu handeln, eine dieser kryptischen Angaben, die die Post benutzte, um im Labyrinth der Straßen und Kanäle von Venedig ein bestimmtes Gebäude zu bezeichnen.
Argo war verstummt und Jana sah ihn neugierig an, weil sie davon ausging, er werde noch etwas hinzufügen. Aber der Wächter wandte sich mit einem schiefen Lächeln von ihr ab und kehrte langsam zu seiner Pritsche zurück. Ächzend ließ er sich wieder darauf nieder, legte sich mit dem Gesicht zur Wand und zog die schmuddelige Decke über sich. Das Einzige, was Jana noch von ihm sehen konnte, waren seine verkrüppelten Flügel, schwarz wie bei einem Vogel, der in ein Feuer geraten ist.
Kapitel 5
A ls Jana Argos Zelle verließ, sog sie gierig die modrige Luft im Gang ein, die zumindest nicht ganz so stickig war wie drinnen bei dem alten Wächter. Sie lehnte sich an die Wand gegenüber der Tür und beobachtete stumm, wie Yadia die Eisenschlösser eins nach dem anderen sorgfältig absperrte.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie ohne Umschweife, als er fertig war.
Yadia hängte den verrosteten Schlüsselbund an seinen Gürtel
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