Illusion - das Zeichen der Nacht
eine hohe graue Steinmauer den Weg.
Yadia hatte sie überholt, er ging schnell und sah ständig nach rechts und links. »2250 … 2252«, sagte er schließlich mit Blick auf die beiden letzten Gebäude, das eine links von ihm, das andere rechts. »Die Adresse, die Argo uns genannt hat, gibt es gar nicht. Verstehst du? Sie müsste zwischen diesen beiden Palazzi sein, genau hier, wo die Mauer steht.«
Jana nickte halbherzig. Sie hielt sich erst seit wenigen Tagen in Venedig auf und war noch nicht mit der komplizierten Nummerierung der Gebäude vertraut. Offenbar galt hier nicht die Regel, für die eine Straßenseite gerade Zahlen zu verwenden und für die andere ungerade. Zumindest nicht in der Calle dei Morti.
Hinter ihnen war ein dumpfes Knurren zu hören, wie von einem kleinen, misstrauischen Tier. Jana drehte rasch den Kopf, sah aber nichts. »Er hat uns an der Nase herumgeführt«, sagte sie mit einem Seufzer. »Es war idiotisch herzukommen. Ich hätte mir ja denken können, dass Argo ein schmutziges Spiel spielt.«
»Wart mal«, rief Yadia, als Jana kehrtmachte und wieder auf die Brücke zusteuerte. »Warte, vielleicht haben wir noch nicht alles gesehen. Lass mich was ausprobieren.«
»Was hast du vor?«
Anstelle einer Antwort ging Yadia auf die rissige Mauer am Ende des Gässchens zu. Jemand hatte mit rotem Spray einen Pferdekopf daraufgesprüht, bei dessen Anblick Jana eine Gänsehaut bekam. Sie musste sofort an das Symbol des untergegangenen Klans der Kurilen denken.
Als Yadia eine Hand auf das Graffiti legte, stürzte links von ihm ein Stück Mauer ein, und eine dicke gelbe Staubwolke stieg auf. Das Seltsame war, dass alles völlig geräuschlos vor sich ging. Staunend beobachtete Jana, wie Yadia sich dort, wo bis gerade eben noch die Mauer gewesen war, nach oben bewegte, als würde er eine unsichtbare Treppe hinaufsteigen.
»Komm mit.« Yadia hatte sich zu ihr umgedreht. »Man kann die Stufen zwar nicht sehen, aber es gibt sie und sie sind ganz fest. Du kannst mir vertrauen, es wird nichts passieren.«
Ein wenig verärgert über sich selbst, weil sie ihrem Begleiter die Initiative überlassen hatte, begann Jana, die unsichtbare Treppe zu erklimmen. Ganz vorsichtig tastete sie mit dem Fuß immer erst nach der nächsten Stufe, bevor sie ihn belastete, und das feuchte Pflaster der Gasse, aus dem überall Unkraut spross, blieb immer tiefer unter ihr zurück. Es war, als bestünden die Stufen aus blitzblankem Glas oder als hätte sich die Luft unter ihren Füßen zusammengeballt.
Erst kurz bevor sie am oberen Ende der Treppe angelangt war, bemerkte sie über sich den alten Palazzo, der vorher von der Mauer am Ende der Gasse verdeckt gewesen war.
Das hier musste die rückwärtige Fassade sein, ein schmales, aber dennoch majestätisches Gebäude, wie man es in dieser heruntergekommenen Gegend nicht erwartet hätte. Über der untersten Etage türmten sich drei Paare von gotischen Fenstern übereinander und sorgten für einen harmonischen Gesamteindruck. Die Treppe führte sie auf einen halbrunden Absatz, über den sich ein reich verziertes Vordach aus Marmor wölbte, und nun standen sie vor einer neuen Tür aus glattem schwarzem Holz.
Beim Anblick der bronzenen Löwenpranke, die als Türklopfer diente, fragte sich Jana, ob sie ihn betätigen sollten. Doch Yadia schien keine Bedenken zu haben und kam ihr schon wieder zuvor. Selbstsicher trat er an die Tür und versetzte ihr mehrere kräftige Faustschläge, jedoch immer an einer anderen Stelle. Jana verfolgte seine Bewegungen mit wachsender Neugier. Beim dritten Schlag begriff sie, dass Yadia die Stellen, an die er klopfte, nicht zufällig wählte, sondern dass sie, wenn man sie verband, ein Muster ergaben. Aber was für eins? Das war nicht erkennbar.
Plötzlich mischte sich lautes Heulen in die monotonen Klopfgeräusche. Als Jana über die Schulter nach unten blickte, entdeckte sie am Fuß der Treppe einen pechschwarzen Schatten. Sofort standen ihr alle Haare zu Berge: ein riesiger Hund oder vielleicht ein Wolf starrte mit seinen beiden goldenen Augen hungrig nach oben. Aus seinem unsichtbaren Maul kam jetzt ein heiseres Keuchen.
Yadia zerrte heftig an ihrem Arm. »Sieh nicht hin. Wenn er dir in die Augen blickt, bist du verloren!«
Jetzt heulte das dunkle Wesen tief unter ihnen wieder und es klang eindeutig bedrohlich.
»Was ist denn das?«, fragte Jana. »Sieht aus wie ein Ghul.«
»Oh nein, das da ist viel schlimmer als ein Ghul. Siehst du nicht,
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