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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Asunción und Francesca war also, den Worten von Hugo Santillana nach, nicht »rein freundschaftlich«. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die Vermutungen über die Art des Verhältnisses zwischen den beiden Frauen einzig der Erstellung eines psychologischen Rahmens (und damit der subjektiven Beweggründe) dienen, in den sich die dramatischen Ereignisse einordnen lassen.
    Es lässt sich demnach feststellen, dass Francesca und María Asunción in einer Liebesbeziehung zueinander standen und dass diese allgemein bekannt geworden war.
    Dies stellt womöglich einen der Auslöser für die entscheidende und dramatische Wende in diesem Fall dar, der abermals einige Worte von Hugo Santillana vorausgeschickt werden sollen. Es sei angemerkt, dass der Zeuge sich erst nach langem Zögern und in Folge behutsamer Überzeugungsarbeit zu einer Aussage durchgerungen hat. Die Gründe dafür werden am Ende der Lektüre klar.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Ich erkläre mich zu den folgenden Aussagen bereit mit der Bitte, sie nicht an meine Vorgesetzten der Organisation Ärzte ohne Grenzen weiterzugeben.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Ich will nicht, dass diese Aussagen meinen Vorgesetzten zu Ohren kommen, denn ihnen zu verschweigen, was ich Ihnen jetzt erzähle, war ein schwerer Fehler, für den ich zur Verantwortung gezogen werden könnte.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Dankend nehme ich zur Kenntnis, dass diese Aussagen vertraulich behandelt werden. Wie Sie wissen, vertritt die Organisation Ärzte ohne Grenzen eine Politik der Äquidistanz von den Konfliktparteien eines Krisengebietes. Die Devise der Äquidistanz geht mit der strikten Ablehnung von Gewalt, Waffen und Ähnlichem einher. Wie Sie selbst gesehen haben, sind all unsere Transportmittel neben dem Logo und dem Namen unserer Organisation mit Aufschriften versehen, die unseren humanitären Auftrag deutlich machen sowie die Tatsache, dass in unseren Fahrzeugen nie – niemals – irgendwelche Arten von Waffen transportiert werden. Für ein Mitglied von Ärzte ohne Grenzen ist das Tragen einer Waffe ein schwerer Regelverstoß. Vor allem kann es damit das Leben seiner Kollegen in Gefahr bringen und die Arbeit der Organisation beeinträchtigen, da es das Vertrauen der gegnerischen Lager in die absolute Neutralität und Gewaltfreiheit unserer Vereinigung zerstört.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Als wir ein paar Tage vor Francescas Verschwinden ins Auto stiegen, um zu einem mobilen Einsatz aufzubrechen, habe ich in ihrem Hosenbund einen Pistolenknauf gesehen. Ich nahm sie beiseite und fragte sie, was das sei, obwohl ich es genau wusste. Sie meinte, ich solle mir keine Sorgen machen, sie würde die Pistole bald verschwinden lassen, ich sollte bitte niemandem davon erzählen. Ich erklärte ihr, dass sie eine große Dummheit begehe und nicht nur ihr Leben, sondern das sämtlicher Mitarbeiter in Gefahr bringe. Sie erwiderte abermals, ich solle mir keine Sorgen machen, in ein paar Tagen sei die Pistole verschwunden.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Ich habe keine Ahnung, wie Francesca an die Pistole gekommen ist. Natürlich habe ich daran gedacht, die Sache meinen Vorgesetzten zu melden, doch dann habe ich es nicht über mich gebracht. Nach Francescas Verschwinden habe ich mich oft gefragt, ob meine Meldung etwas geändert hätte, doch natürlich ist die Frage müßig.
    Die von Hugo Santillana geschilderten Tatsachen haben sich einige Tage – vielleicht eine Woche – vor Dr. Colonnas Verschwinden ereignet. Die dem Verschwinden unmittelbar vorausgehenden Ereignisse lassen sich mit den Worten des bereits zitierten Xavier Torres wiedergeben.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Am Tag vor Francescas Verschwinden kam es zu einem Ereignis, das uns alle erschütterte. Nachmittags kam María Asunción völlig außer sich in die Praxis. Sie hatte einen Zettel bei sich und musste sich sehr zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Leider hatten wir solche Szenen schon oft erlebt.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Ich bestätige: María Asunción hatte eine Ächtungsliste bekommen. Es war der übliche maschinengeschriebene Zettel mit ihrem Namen und denen von rund einem Dutzend anderer Personen (die natürlich ebenfalls eine Kopie der Liste erhalten hatten). Mit einer Besonderheit: María Asuncións Name – nur ihrer – war mit ein paar handgeschriebenen Worten versehen.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Sie lauteten: »Elende Lesbe ( tortillera perdida ), wir machen dich kalt, aber vorher amüsieren wir uns ordentlich mit

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