Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
Vom Netzwerk:
die Gemeindestraße ein, die zu einer Kreuzung mit einem Betstock führte, und dann nahm man die Schotterstraße bis zum Gehöft. Um sicher zu sein, dass ich nicht zu spät kam, schwang ich mich nachmittags gegen sechs aufs Rad und fuhr los.
    Während ich in das unbekannte Gebiet vordrang, überkam mich ein erhebendes Freiheitsgefühl, wie ich es selten in meinem Leben empfunden habe. Etwas würde geschehen.
    Nach einer steilen Bergfahrt erreichte ich mit klopfendem Herzen eine Hochebene. Ringsherum Murgia, erdbraun und steingesprenkelt. Unten, am Fuß eines Abhanges, der noch steiler erschien als die Steigung, die ich gerade genommen hatte, lag ein kleines, kalkweißes Gehöft. Obwohl es noch weit entfernt war, konnte man auf der Tenne einen Menschen erkennen, der mit irgendwelchen Gegenständen hantierte.
    Vorsichtig machte ich mich an den Abstieg. Die Straße war wirklich abschüssig, und ein Sturz wäre kein Spaß gewesen. Während ich mich bremsend und schlitternd bergab bewegte, musste ich daran denken, wie wohl der umgekehrte Weg auf dieser Straße werden würde.
    Dann war ich endlich da. Benito grüßte mich mit einer winzigen Handbewegung, hieß mich das Rad wegstellen und gab mir einen der beiden Stöcke, die er bei sich trug. Sie waren weiß, ganz frisch geschnitzt und genauso groß wie der auf der Lichtung. Auf dem Stuhl lagen zwei sehr scharf aussehende Messer und auf der Erde einige Häufchen Späne.
    Benito erklärte mir, wie ich den Stock halten müsse, machte ein paar Schritte rückwärts und forderte mich auf, ihn zu schlagen. Ich wollte fragen, wie ich das anstellen sollte, doch sein Blick hielt mich davon ab. Ich hob den Stock und holte halbherzig nach seinem Kopf aus. Er parierte mit einer nachlässigen, fast behäbigen Geste.
    »Mehr Kraft hast du nicht? Mit diesem Knüppel solltest du mir den Schädel zertrümmern.«
    Also versuchte ich es richtig. Ich bewegte mich mit aller Kraft und Schnelligkeit, die ich aufbringen konnte, und ohne zu wissen, wie mir geschah, lag ich eine Sekunde später unbewaffnet im Staub, die Spitze seines Stocks an der Kehle.
    So begann meine Lehre.
    Als ich ging, war die Sonne bereits untergegangen, meine Arme schmerzten und unter meinem T-Shirt bildeten sich mehrere blaue Flecke. Als ich nach Hause kam, war es fast dunkel. Zia Agnese fragte, ob mir die Welpen gefallen hätten, und ich sagte, ja, sehr, dabei hatte ich die ganze Zeit kein einziges Tier zu Gesicht bekommen.
    Von da an ging ich fast jeden Tag zum Gehöft. Jedes Mal war die Lektion anders und neu. Benito brachte mir das Fechten mit dem Schläger bei, das eindeutig seine große Leidenschaft war, aber auch andere Dinge: die Kniffe.
    Die Kniffe waren das, was man bei den Kampfkünsten Angriff mit bloßen Händen nennt. Kopfnüsse, Tritte vors Schienbein, Ohrfeigen, an den Haaren ziehen, um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen, Finger umbiegen, Handgelenk verdrehen, Ellenbogen verdrehen, Ellenbogenstöße, Kniestöße, Beinstellen, Eier quetschen, Finger ins Auge stecken, unvermittelt losbrüllen, um den Gegner zu erschrecken.
    »Wer hat dir das alles beigebracht, Benito?«, traute ich mich eines Abends nach der Lektion zu fragen.
    Er sah mir ein paar Sekunden in die Augen. Dann schien sich etwas in der maskenhaften Starre seines Gesichtes zu lösen.
    »Im Knast haben sie mir’s gezeigt.«
    Stumm stand ich da und wusste nicht, was ich sagen sollte. Und zum ersten Mal wirkte auch er ein wenig verunsichert.
    »Jetzt willste wissen, weshalb ich gesessen habe.«
    Reglos stand ich da. Er atmete tief ein, wie ein witternder Jagdhund.
    »Da war einer, der sagte, er muss mich umbringen. Er muss mich abstechen wie ein Lamm, weil er meinte, ich hab ihm was geklaut von seinem Land. Ich dachte, lieber hör ich Ketten rasseln als Glocken läuten, und da bin ich als Erster zu ihm. Den Monat drauf wollt ich heiraten.«
    Das war die längste Rede, die ich je von ihm gehört hatte. Danach sah er erschöpft und irgendwie gealtert aus.
    »Und willste nachmittags noch kommen?«
    »Ja.«
    »Deine Verwandten wissen nichts von dieser Sache.«
    »Das muss ich denen auch nicht erzählen.«
    Er nickte, und irgendetwas in seinem Blick erregte in mir ein unerklärliches Mitleid. Dann deutete er auf mein Rad. Es war Zeit, nach Hause zu fahren.
    *
    Abgesehen von einem räudigen Köter, ein paar Hühnern und einmal auch einer Ziege begegnete ich beim Gehöft niemandem. Nie eine Stimme oder ein menschliches Wesen, nicht einmal von

Weitere Kostenlose Bücher