Illusion der Weisheit
Weitem.
Falls dort noch andere Menschen lebten, waren sie bestens darauf bedacht, sich zu verbergen und die Stille und Reglosigkeit ringsum nicht zu stören.
Meine Freunde fragten mich, was ich vorhätte, wenn ich fast jeden Nachmittag um die gleiche Zeit verschwand, und ich antwortete, das könne ich ihnen nicht sagen.
Maurizio war fest davon überzeugt, ich hätte ein Mädchen gefunden und müsse sexuellen Verpflichtungen nachkommen. Er fragte – bettelte –, mich wenigstens einmal begleiten zu dürfen, und ich entgegnete mit einer guten Portion Häme und ohne seiner Mutmaßung zu widersprechen, ich könne ihn auf keinen Fall mitnehmen. Es sei noch zu früh, vielleicht im nächsten Jahr. Vielleicht.
Noch immer spielten wir Fußball und Tischtennis, doch ich war nicht besonders bei der Sache und verbrachte viel Zeit allein, um zu üben und die Kniffe zu wiederholen, die Benito mir nach und nach beibrachte.
Manchmal, wenn ich zum Gehöft kam, lag er auf einem zerschlissenen Liegestuhl, qualmte eine stinkende Toscano, trank Rotwein und hörte Opernmusik auf einem alten Plattenspieler.
An manchen Tagen, wenn der Wind richtig stand, konnte ich die Musik schon oben an der Straße hören wie fernen Erdengesang.
Wenn Benito Musik hörte, konnte man nicht mit dem Unterricht anfangen, ehe die Platte zu Ende war. Ich hatte für Opernmusik nicht viel übrig, dieses Geträller ging mir auf die Nerven, und das Wenige, was ich vom Text aufschnappen konnte, kam mir maßlos albern vor. Doch einmal, während ich das Ende der Musik abwartete, hörten die Stimmen zu singen auf, und eine himmlische Musik setzte ein, die ich nie vergessen werde.
»Was war das?«, fragte ich, als Benito den Plattenspieler weggeräumt hatte.
»Die Cavalleria rusticana .«
»Das ist wunderschön.«
Er musterte mich mit einem seltsamen Blick und schien etwas sagen zu wollen. Doch dann nickte er nur und reichte mir den Stock.
*
Eines Tages – das Ende des Sommers rückte näher – fragte mich Zia Agnese, ob sie mir die Karten legen solle. Ich zögerte einen Moment. Mama lehrte mathematische Analyse und Differenzialrechnung, von Handlesen, Astrologie und Kartenlesen hatte sie immer gesprochen, als wären das barbarische Riten, die nur Scharlatane und Beschränkte praktizierten.
Ihre Ansichten hatten meine Einstellung zum Kartenlegen geprägt. Hätte mich jemand gefragt, ob ich daran glaubte, hätte ich nur geantwortet: nicht im Traum. Dasselbe würde ich heute übrigens auch sagen.
Doch weil ich Zia Agnese nicht vor den Kopf stoßen wollte, antwortete ich kurzerhand: natürlich, gern, mit Vergnügen, ich sei gespannt. Was kostete mich diese kleine Lüge schon.
»Ach, das freut mich aber. Ich dachte schon, du würdest ablehnen. Na komm, lass uns in die Küche gehen.«
Für Zia Agnese war die Küche der Ort der Tarots. Hin und wieder kamen ein paar Frauen – sehr viel seltener auch mal ein Mann – vorbei und ließen sich von ihr die Karten legen. Sie bat sie in die Küche, bot ihnen Kaffee oder Amarena an, schloss die Tür und legte los. Rund eine Stunde später kamen sie aufgeregt schwatzend aus der Küche, der Gast stellte die letzten klärenden Fragen, und sie gab die letzten Erläuterungen. Dann revanchierte man sich mit Tafelrotwein, Obststiegen, Käse oder Öl.
Zia Agnese mischte wie beiläufig die Karten und ließ mich eine bestimmte Anzahl ziehen. Ich erinnere mich nicht mehr, was genau sie mir zur Bedeutung jeder einzelnen Karte, zu deren Kombination, zu meiner wahren Natur oder zu den Menschen, vor denen ich mich in Acht nehmen sollte, sagte.
Doch an eines erinnere ich mich genau und werde es nie vergessen.
Zia Agnese sagte, wenn ich groß sei, würde ich Schriftsteller werden.
Sie sagte es rundheraus, ohne Wenn und Aber. Sie sagte, das zeige vor allem die erste Karte, die ich gezogen hätte – die Sonne.
Sie wusste nicht – niemand wusste es –, dass ich, seit ich lesen konnte, davon träumte, Schriftsteller zu werden. Sie machte ein stolzes, zufriedenes Gesicht, als wäre ihre Prophezeiung bereits wahr geworden und als hätte sie einen nicht unerheblichen Anteil daran.
Ihre Worte fuhren mir ins Herz und brannten sich dort ein, für immer.
*
Die späten Augustgewitter kamen, gefolgt von imposanten Himmeln voller riesiger weißer Wolken und schneidendem Wind, der den Herbst und das Ende vieler Dinge ankündigte.
Maurizio und Cristina waren die Ersten, die abfuhren. Sie veranstalteten ein kleines Abschiedsfest bei
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