Illusion der Weisheit
sich zu Hause.
Wir aßen Focaccia, Mozzarella und Mortadella und tranken Limo. Dann wurde uns eine unförmige gelbe Cremetorte vorgesetzt, die nach Watte schmeckte. Während ich mühsam einen Happen nach dem anderen hinunterwürgte, dachte ich, dass angesichts der unmittelbaren kulinarischen Konkurrenz Zia Agnese mit ihrer Behauptung, eine gute Köchin zu sein, vielleicht doch nicht ganz unrecht hatte.
Wir spielten ein bisschen Tischfußball und setzten uns in die Laube. Eigentlich hatten wir noch einmal alle zusammensitzen und reden wollen, doch sofort war klar, dass unsere Zeit, ohne dass wir es bemerkt hätten, bereits abgelaufen war. Wir wussten uns nichts zu sagen, und ich hatte keine Geschichten mehr auf Lager, oder vielleicht hatte ich nur keine Lust mehr, sie zu erzählen.
Als ich ein paar Tage darauf zum Abendbrot heimkam, erzählte mir Zia Agnese, sie hätte Mama angerufen. Am nächsten Tag käme sie mich abholen.
Einen Moment lang war ich wie vor den Kopf gestoßen, was mir sogleich absurd erschien. Anfangs hatte ich die Minuten bis zu dieser Abreise gezählt, und jetzt machte mich die Vorstellung, fahren zu müssen, plötzlich traurig.
Der Abend verlief genau wie jeder andere. Kaltes Abendbrot – zum Glück kochte Zia Agnese nur mittags –, Fernsehen, eine Handvoll von Zio Mauros Weisheiten zu verschiedenen weltumspannenden Themen und zu ein paar Kollegen, die selbstverständlich einen Scheißdreck kapierten. Die Zwillinge gingen als Erste schlafen, Zio Mauro nickte im Sessel ein und schleppte sich dann im Halbschlaf ins Bett, und ich blieb auf und las, während Zia Agnese den Abwasch machte.
Als ich rund eine halbe Stunde später auch im Bett lag, hörte ich, wie sich die Zimmertür sacht öffnete.
»Enrico, schläfst du?«
Ich schlief nicht, sondern tat gerade etwas Verbotenes. Also antwortete ich nicht, blieb starr auf der Seite liegen, als schliefe ich tief und fest, und hoffte, Zia Agnese würde die Tür wieder schließen und verschwinden.
Doch sie kam herein und setzte sich auf meine Bettkante. Ihr Duft nach Creme und Puder stieg mir in die Nase und erfüllte mich mit vorzeitiger Wehmut und mit noch etwas anderem, Diesseitigerem, das ich nicht zu benennen wusste.
»Weißt du eigentlich, dass es mir leidtut, dass du fährst? Sehr sogar«, flüsterte sie mit trauriger Stimme, die ich von ihr nicht kannte. »Ich werde mich einsam fühlen, wenn du nicht mehr da bist.«
Sie fing an, mich zu streicheln. Den Kopf, das Haar, den Hals.
Dann die Schultern und die Brust.
Ich war wie gelähmt. Ihre Hand war weich und sanft, wie ein eigenständiges Wesen.
Langsam glitt sie zu meinem Bauch. Ich hätte sie zurückhalten sollen, denn nur noch wenige Zentimeter, und sie wäre auf den handfesten Beweis meiner Verderbtheit gestoßen und ich hätte mich in Grund und Boden geschämt.
Doch ich war wie gelähmt, konnte mich nicht rühren.
Als ihre Hand noch tiefer rutschte, schien sie nicht überrascht zu sein und streichelte behutsam weiter.
Schließlich zog sie Laken und Decke zurecht, gab mir einen Kuss auf die Wange, und alles zerrann im Schlaf. Es zerrann so schnell, dass ich mich im Laufe der Jahre manchmal gefragt habe, ob dieses nächtliche Erlebnis wirklich passiert ist.
*
Am anderen Morgen beim Frühstück war alles wie immer.
»Du fährst also heute. Tut es dir denn wenigstens ein bisschen leid?«, fragte Zia Agnese.
Ich meinte, bei ihr ein leises Echo der Traurigkeit von vergangener Nacht herauszuhören.
Ich nickte, ohne aufzublicken. In mir herrschte ein wilder Gefühlstumult, den ich bestimmt nicht hätte im Zaum halten können. Mit der Tante allein wäre es anders gewesen, aber die Zwillinge und Zio Mauro waren auch noch da. Vor ihnen wollte ich nicht weinen. Dann hätten sie mein – unser – Geheimnis entdeckt, dachte ich voller Ingrimm, der einen nur bei besonders hirnrissigen Überlegungen packt.
Ich frühstückte zu Ende und ging mich lustlos von Filippo und Marino verabschieden.
Als Erstes fragten sie mich, ob wir uns, wenn sie in ein paar Wochen wieder in Bari wären, verabreden und was zusammen unternehmen wollten. Ich sagte Ja, klar würden wir uns sehen. Aber ich wusste ganz genau, dass das nicht stimmte.
Wir spielten Fußball auf der Allee. Nur ein bisschen, ohne Elan, mit dem beklommenen Gefühl von Aufkündigung. Wie durch einen bösen Zauber wurden mir diese beiden Knirpse, mit denen ich einen Teil meines Lebens verbracht hatte, vor meinen Augen wieder
Weitere Kostenlose Bücher