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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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geschnittenen Augen herein.
    ALTER MANN : Bin ich zu spät?
    JUNGER MANN : Nein, nein, Sie sind überpünktlich. Ich war ein paar Minuten früher da. Trinken Sie etwas?
    ALTER MANN : Auch einen Cappuccino, danke.
    Der junge Mann ruft den Kellner, bestellt und wendet sich wieder dem Alten zu.
    ALTER MANN : Sie sind also Schriftsteller?
    JUNGER MANN : Ja, ich schreibe Romane.
    ALTER MANN : Ich fürchte, ich habe nichts von Ihnen gelesen. Das tut mir leid.
    JUNGER MANN : Das macht nichts. Der nahezu vollständigen Gesamtheit der Weltbevölkerung geht es ebenso. Lesen Sie gern?
    ALTER MANN : Ja.
    JUNGER MANN : Ungewöhnlich für einen Polizisten.
    ALTER MANN : Kennen Sie viele Polizisten?
    JUNGER MANN : (nach einer Pause) Sie haben recht, entschuldigen Sie. Das war dumm von mir.
    ALTER MANN : Nein. Von mir war es unhöflich, Sie darauf aufmerksam zu machen. Wenn ich bei unserem Telefonat recht verstanden habe, möchten Sie mir wegen eines Buches, an dem Sie gerade arbeiten, ein paar Fragen stellen.
    JUNGER MANN : So ist es, und ich danke Ihnen, dass Sie diesem Treffen zugestimmt haben. Ich habe da einige Fragen zur Verhörtechnik. Mir wurde gesagt, Sie seien der richtige Mann. In Ihren Kreisen – aber auch außerhalb – hört man sehr interessante Dinge über Sie.
    ALTER MANN : In meinen Kreisen wird auch sehr viel dummes Zeug erzählt.
    JUNGER MANN : Es heißt, Sie brächten jeden zum Reden. Es heißt, Sie könnten die Verdächtigen hypnotisieren.
    ALTER MANN : Sehen Sie? Dummes Geschwätz.
    JUNGER MANN : Aber Sie haben während ihres Berufslebens unglaublich viele Geständnisse bekommen. Wie erklären Sie sich das?
    ALTER MANN : Vielleicht war das Glück.
    JUNGER MANN : Glück hat mit solchen Dingen nichts zu tun, und das wissen Sie mindestens so gut wie ich.
    ALTER MANN : (nach einer Pause) Jetzt habe ich auch etwas Dummes gesagt. Mit Glück hat das kaum etwas zu tun.
    JUNGER MANN : Na schön, jetzt, da wir quitt sind, können wir noch mal von vorn anfangen. Wieso sind Sie Polizist geworden?
    ALTER MANN : Ich studierte und ging die Sache sehr gelassen an.
    JUNGER MANN : Was haben Sie studiert?
    ALTER MANN : Philosophie.
    JUNGER MANN : Philosophie …
    ALTER MANN : Genauer gesagt, ich war für Philosophie eingeschrieben und absolvierte die eine oder andere Prüfung. Ich war fast dreißig, schlug mir die Nächte mit Karten spielen um die Ohren, trank, rauchte (alles Mögliche) und versuchte mich im Schreiben unsäglicher Erzählungen und noch unsäglicherer Gedichte. Wie Sie sich vorstellen können, war ich nicht sonderlich zufrieden mit mir. Dann blätterte ich eines Morgens in der Zeitung und las, dass es im Zuge der Polizeireform die erste Ausschreibung für Inspektoren gab. Um sich bewerben zu können, genügte es, Abitur zu haben. Heute ist es selbstverständlich, dass es in der italienischen Polizei Inspektoren gibt, doch damals war das eine große Neuigkeit. Bis dahin hatte es nur Polizeimeister, Wachtmeister und Gefreite gegeben. Der Begriff hatte etwas von amerikanischen Filmen, und für einen Hard-boiled -Fan wie mich klang das nach reinem Abenteuer. Wie auch immer, ohne meiner Familie etwas zu sagen, die das gewiss nicht gutgeheißen hätte, reichte ich meine Bewerbung ein.
    JUNGER MANN : Wieso hätte sie das nicht gutgeheißen?
    ALTER MANN : Meine Eltern waren Gymnasiallehrer und ehemalige Aktivisten der PCI . Für sie war die Polizei gleichbedeutend mit Scelbas Schergen: faschistische Berserker, die auf Demonstranten einprügeln. Für die Polizei hatten sie nicht das Geringste übrig, und, so komisch es klingt, absurderweise hatten sie vor den Carabinieri mehr Respekt. Also erledigte ich alles hinter ihrem Rücken – die ärztliche Untersuchung, die schriftlichen und mündlichen Prüfungen –, und ich bestand. Ehe ich meine Ausbildung antrat, musste ich sie natürlich in Kenntnis setzen.
    JUNGER MANN : Und was sagten sie?
    ALTER MANN : Sie waren alles andere als glücklich. Sie versuchten mich davon abzubringen, begriffen aber sehr schnell, dass ich meine Entscheidung getroffen hatte. Also musste ich meinem Vater versprechen, dass ich wenigstens mein Studium fortsetzen und den Abschluss machen würde. Ich versprach es ihm. Den Abschluss habe ich tatsächlich gemacht, allerdings erst sehr viele Jahre später, als er schon nicht mehr am Leben war.
    JUNGER MANN : Und nach der Ausbildung?
    ALTER MANN : Fing ich an, als Bulle zu arbeiten. Wissen Sie, was ich am besten fand?
    JUNGER MANN : Was denn?
    ALTER

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