Im Abgrund der Ewigkeit
Holster, meinen Revolvergurt und zu meinem großen Erstaunen den alten Lederreisekoffer heraus, den er von mir quasi geerbt hatte und von dem er sich noch immer nicht trennen wollte oder konnte.
Ich holte mir meinen Gurt und blickte Clement ins Gesicht. Er wirkte ausgeglichen und ruhig - wie gewöhnlich. Das mörderische Leuchten war aus seinen Augen verschwunden, als ob ich es mir nur eingebildet hätte.
„Wir sollten uns sofort um das Fenster kümmern“, mahnte Johannes, „damit das Haus nicht noch weiter auskühlt.“
„Und wir müssen die Leichen fortschaffen“, sagte Cecilia. „Vergraben können wir sie zwar nicht, der Boden ist gefroren. Aber wir haben ein Gebeinhaus neben der kleinen Kapelle am Rande des Friedhofs.“
„Das mit den Leichen übernehme ich“, sagte Clement und seine Stimme ließ keine Widerrede zu. Er hatte das Holster angelegt und mit der Automatik bestückt. Gedankenverloren spielte er mit seinem Messer und prüfte vorsichtig die Klinge, bevor er es wieder im rechten Stiefelschaft verschwinden ließ. Als ihm bewusst wurde, dass wir ihn beobachteten, schnaubte er ungehalten. „Jetzt habt euch nicht so. Packt mit an, dann geht das im Handumdrehen.“
Er griff sich den Arm eines Toten und zerrte die Leiche in Richtung des Ausgangs. „Besitzt ihr einen Leiterwagen?“, rief er dabei über seine Schulter.
„Ja“, erwiderte Arne. „Zum Heumachen.“
„Spann ihn an und bring ihn vor die Tür. …Und vergiss mein Pferd nicht.“
Wie in Trance setzten wir uns alle in Bewegung und bald lagen die Toten nebeneinander aufgereiht auf der Veranda. Cecilia schloss den schweren Laden vor dem zerbrochenen Fenster und drinnen klatschte Wasser auf den Boden, als Gundula mit dem Schrubben der Holzdielen begann.
In den Häusern links und rechts der Straße regte sich allmählich Leben. Türen wurden geöffnet, Menschen streckten ihre Köpfe hinaus. Vereinzelt wagten sich die Bewohner sogar bis an Gundulas Haus heran.
Arne war gerade mit dem Leiterwagen vorgefahren und hatte Clements Schimmel im Schlepptau. Clement erschien mit seiner schwarzen Ledertasche und schnallte sie an den Sattel seines Pferdes. Gemeinsam mit Johannes hievte er den ersten Leichnam auf die Ladefläche.
Eine ältere Frau stand im knöcheltiefen Schnee und sah beiden zu. Ich bemerkte, dass sie in ihrer Aufregung vergessen hatte, feste Schuhe anzuziehen. Ihre Füße steckten in selbstgemachten Pantoffeln. Sie wies auf die sterblichen Überreste der Rattenmenschen. „Sind die tot?“, fragte sie.
„Mausetot“, bestätigte Johannes.
„Ich habe gehört“, fuhr die Frau fort, „dass sich schon einmal eine Stadt gegen die Rattenmenschen erhoben hat. Weiter unten, im Tal.“
„Und?“, fragte ich, „wie ist der Kampf ausgegangen?“
„Das weiß niemand. Die Stadt gibt es nicht mehr. Keiner der Einwohner wurde seither gesehen. Alles ist zu Asche verbrannt, lediglich die steinernen Kamine geben Zeugnis davon, dass dort einst Menschen gelebt haben.“
Johannes richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sein Blick fuhr prüfend über die angstvollen Gesichter der Bewohner. „Das wird hier nicht passieren. Mein Bruder, Lilith und ich werden die Stadt gegen den Oberst und seine Horde verteidigen.“
Die Frau schüttelte zweifelnd ihr graues Haupt. „Ihr habt keine Chance. Das sind zu viele.“
„Auch Viele können sterben!“ Clement schwang sich auf sein Pferd.
Arne schnalzte mit der Zunge und die Zugtiere des Leiterwagens setzten sich gehorsam in Bewegung. Die metallenen Reifen der Holzräder quietschten laut im Schnee, als sich der Leichenwagen aus unserem Sichtfeld entfernte.
„Solange ich zurückdenken kann, haben uns die Rattenmenschen nichts Schlimmes angetan. Wir haben unseren Proviant mit ihnen geteilt, ihnen Schnaps gegeben und sie ließen uns in Ruhe. Aber jetzt...“ Die Frau senkte ihren Kopf und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
„Was willst du Marie? Unsere Ernte reicht in diesem Jahr nicht einmal für uns selbst aus. Wir müssen Johannes und Lilith dankbar dafür sein, dass sie den Kampf übernehmen, den eigentlich wir führen müssten“, meldete sich Gundula mit klarer Stimme zu Wort. Sie stand mit ihrem triefenden Wischmopp in der Tür.
Die ältere Frau, die Gundula Marie genannt hatte, nahm ihre Hände herunter. Ihr Gesicht war rot angelaufen und ihre Augen blitzten zornig und voller Tränen. „Sei du nur still! Niemals hast du etwas gegen den Oberst unternommen. Immer hast du ihm
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