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Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)

Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)

Titel: Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)
Autoren: Christoph W. Bauer
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erhältst du Floris camomille, Kamillenblüten, und Radix acori, die Wurzel von Acorus Calamus, Kalmus wird heute noch bei Verdauungsstörungen verwendet. „Canffecten“ erfreuen sich größter Beliebtheit, unter Confectiones versteht man ein Gemisch aus diversen Drogenpulvern mineralischer, tierischer und pflanzlicher Herkunft, verrührt in Honig, Wein, Zucker oder ausgepressten Säften. „Negel“ verabreicht man bei Herzbeschwerden oder Schlaganfällen, das Arzneimittel wird aus den getrockneten Blütenknospen von Eugenia cayophyllata hergestellt, ein ätherisches Öl, das später auch in der Zahnbehandlung Anwendung findet. Am besten aber, du greifst zum Theriak, die berühmteste Arznei des Mittelalters, ein wahres Wundermittel, aus einer Mischung von gut hundert Kräutern hergestellt und meist mit Opium vermengt. Die Herstellung des Mittels besorgen die Apotheker, allerdings nur unter gestrenger Aufsicht der Ärzte. In Wien eilt gar der Dekan der Medizinischen Fakultät herbei, um die Theriakbüchse eigenhändig zu versiegeln.
    Und was, wenn kein Theriak vorrätig ist?
    Versuch es einfach mit einem Gebet, vielleicht hätte dir Konz Speiser das geraten. Das hat wenig mit der vermeintlich anderen Nehmerqualität der damaligen Bevölkerung zu tun, sondern mit ihrer finanziellen Situation. Die ärmeren Schichten in Stadt und Land können sich den Besuch bei einem medicus oder physicus, wie man die Buchmediziner damals auch nennt, nicht leisten, sie leiden mitunter schwere Not. Eines der Häuser, die du erwähnt hast, erzählt vom Elend dieser Zeit – der Kindergarten.
    22
    Was mag in Potentiana Türing vorgehen, wenn sie vor die Haustür tritt und zum Wochenmarkt unter den Altstadtlauben geht? Wahrscheinlich hat sie sich längst an den Anblick gewöhnt: schwere Unter- und Mangelernährung als Folge von Missernten und Naturkatastrophen. Rasch wird die Armut zu einem der größten Probleme der aufblühenden Städte, daran ändern auch all die Handelsbeziehungen, der Status einer Residenzstadt oder die Gründung von Universitäten nichts. Keine Stadt, in der es nicht mindestens ein Bruderhaus gibt, in Innsbruck könnte dir Potentiana Türing zwei dieser Armenhäuser nennen, eines in der Stainerstraße 2 gleich am Marktgraben, das andere an jener Stelle, wo sich heute der Kindergarten St. Nikolaus befindet.
    Beide Häuser sind Altersversorgungsheime mit sehr begrenzter Aufnahmekapazität, sie bieten freies Wohnen und Brennholz, dienen dem städtischen Spital als Unterstützung im Kampf gegen die Armut. Dabei ist die Armut im Mittelalter durchaus kein eindeutiger Begriff – wie hätte Potentiana Türing sie definiert? Oder Konz Speiser? Wie definierst du sie? Sitzt dir, wie in Türings Zeiten, die antike Tradition noch fest im Kopf? Die Antike war dafür bekannt, dass sie die Armen verfemte und stigmatisierte. Die Türings, Speisers und Seusenhofers werden die Armut einerseits verachtet haben, andererseits wussten sie auch, dass die Kirche die Armut zum Läuterungsweg erhob, Gewährung von Almosen war Christenpflicht.
    Hat sich bis heute nicht geändert.
    Spendierfreudigkeit aus Gutherzigkeit oder zur Sicherung eines Platzes im Himmelreich? Für den Stadtbaumeister Gregor Türing keine Frage, er wird – über die finanziellen Mittel verfügt er ja – sein Scherflein bei der Bekämpfung der Armut beigetragen haben, um ruhigeren Gewissens zu seiner Werkstätte in der Innstraße gehen zu können. Seine Nächstenliebe ermöglicht es ihm, sich am Portal, das sein Sohn gemeißelt hat, zu erfreuen und gleichzeitig einen Blick auf das Bruderhaus zu werfen, das sich nur etwas unterhalb des Leprosoriums und in unmittelbarer Nähe des Hauses, in dem du wohnst, befindet.
    Was für eine Wohngegend hab ich mir da bloß ausgesucht!
    Die Schnorrer sind integraler Bestandteil der damaligen Gesellschaftsordnung, haben ihre fixe Position im mittelalterlichen Ständesystem. Alleinstehende sowie jene, die arm sind im Sinn von schwach, also über keine soziale Macht verfügen, können nur darauf hoffen, in einem der Hospitäler oder Bruderhäuser unterzukommen, die große Masse aber ist aufs Betteln angewiesen. Potentiana Türing mag ihrem Gregor damit in den Ohren gelegen haben: Das Bettlervolk nimmt überhand, es wird Zeit, dass der Stadtrat endlich dagegen angeht! Dabei tut der Stadtrat dies unentwegt, mit der Flut von Verordnungen, die europäische Städte im Kampf gegen das Bettelwesen erlassen, kann man Bibliotheken füllen. Eine
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