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Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)

Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)

Titel: Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)
Autoren: Christoph W. Bauer
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das Haus, in dem wir uns befinden, weiß da einiges zu erzählen. 1610 gehört die Eggwirtsbehausung, wie die Quellen das Haus nennen, einem Paul Gassler. Sein Nachbar ist Heinrich Reinhart, ein Glockengießer von Beruf, dem Maximilian III . den Ansitz und die Gusshütte Büchsenhausen verpachtet hat. Oft sitzen Reinhart und der Wirt Gassler bei einem Glas Wein zusammen, gehen gemeinsam die St.-Nikolaus-Gasse hinauf, der Glockengießer weiter Richtung Büchsenhausen, Gassler zum Leprosenhaus, das sich etwas unterhalb des Friedhofs der St.-Nikolaus-Kirche befindet.
    Leprosenhaus?
    Dieses Haus wird erstmals 1313 erwähnt und gut zwanzig Jahre später ausdrücklich als Anstalt der „Sondersychen“ bezeichnet.
    Und was macht ein Wirt dort?
    Gassler ist Kirchenprobst, ein von der Stadt verliehenes Amt, das besser klingt, als es ist, dem Egghauswirt obliegt die Siechenpflege, soll heißen, er hat ausständige Schulden und Zinsen einzutreiben und für die Einhaltung diverser Stiftungen zu sorgen. Das Leprosenhaus ist aber aus einem ganz anderen Grund interessant. Denn ursprünglich kam die Betreuung der Bedürftigen einer Bruderschaft zu, die vermutlich den heiligen Nikolaus von Tolentino als ihren Schutzpatron verehrte. Nikolaus von Tolentino wurde 1245 in Sant’Angelo in Pontano geboren, war Angehöriger des Ordens der Augustiner-Eremiten und in seiner Heimat jahrzehntelang als Seelsorger tätig.
    Willst du damit sagen, dass er der Namensstifter unseres Stadtviertels ist und nicht der bekanntere Nikolaus von Myra?
    Gut möglich. Wenn ja, dann muss es sehr früh zu einer Verwechslung gekommen sein. Denn auf der Wandskulptur am Haus nebenan, Höttinger Gasse 1, ist schon der Heilige Nikolaus von Myra zu sehen, er zeigt in Richtung des Leprosenhauses.
    Wann ist die Skulptur denn entstanden?
    Um 1430, es ist die älteste erhaltene Reliefdarstellung unserer Stadt, sie lässt sich wie ein Wegweiser lesen.
    Aber dann stammt der Name unseres Viertels – von einem Leprosenhaus?
    Was findest du daran so ungewöhnlich? Nimm das Gutleutviertel in Frankfurt am Main, es hat seinen Namen vom Gutleuthof, einem ehemaligen Haus für Leprakranke. Oder das Leprosorium Gut Melaten an der Königsstraße von Aachen nach Maastricht. Die Bezeichnung Melaten, vielleicht mit der gleichen Wurzel wie das französische Wort malade, ist ein Fingerzeig auf ein einst vorhandenes Leprosenhaus, in Köln-Melaten befand sich eines, das zugleich als Zentrum für die Lepraschau in den Rheinlanden galt.
    Lepraschau?
    Wer im Mittelalter unter Verdacht steht, leprös zu sein, muss sich der Lepraschau stellen, dem Examen leprosorum. Dieses wird vom Stadtarzt, dem Bader und den Hebammen durchgeführt, darf aber nur bei sonnigem Wetter stattfinden, weil gute Lichtverhältnisse erforderlich sind. Bei den Analysen wird nach typischen Symptomen gesucht, Geschwürbildungen, Muskelschwund, oft gleichen die Untersuchungen eher Befragungen. Eine Frage ist die nach dem Juckreiz und ob der sich schon absonderlich bemerkbar gemacht habe. Hat der Verdächtige diese Hürde genommen, liegt es an ihm darzulegen, wie es sich mit seinem Schluckauf verhält und ob er oft aufstoßen muss. Eine weitere Frage betrifft den Sexualtrieb des möglicherweise Erkrankten –
    Was hat das mit der Lepra zu tun?
    Anfang des 12. Jahrhunderts hat Hildegard von Bingen den Leprosen einen gesteigerten Geschlechtstrieb diagnostiziert und ihnen Unzucht vorgeworfen. Damit ist der Weg geebnet, die Lepra als Gottesstrafe für eine sündhafte Lebensweise darzustellen. Dabei steht die Benediktinerin nur für eine Kirche, die es sich richtet, wie sie es braucht. Als die Lepra auch bei den Kreuzfahrern auftritt, wird sie zur heiligen Krankheit ausgerufen, das prophylaktische Requiem hat ausgedient, auch ist die Krankheit kein Scheidungsgrund mehr wie zuvor.
    Das prophylaktische Requiem?
    Die Erkrankten, ohnehin schon gezeichnet, mussten nicht nur durch besondere Kleidung und das Tragen von Handschuhen auf sich aufmerksam machen, es wurde ihnen vorsorglich – gesellschaftlich tot, wie sie waren – die Totenmesse gelesen.
    Und wenn eine Examination keine eindeutige Schlussfolgerung zuließ?
    In Zweifelsfällen erfolgt eine erneute Vorladung. Wird der Verdächtige aber für mundus, wie man sagte, also für gesund befunden, stellt man ihm einen Schaubrief aus, mit dem er seinen Mitbürgern beweisen kann, dass er nicht leprös ist. Kommt die Kommission jedoch zum Schluss, dass ein Krankheitsfall vorliegt,
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