Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)
benötigt, um das Feiertagsmahl zuzubereiten, sind die Schöpfkelle für die Asche des Herdes, der Feuerhund, auf den die Holzscheiter für das Herdfeuer aufgelegt werden, auch darf der Dreifuß nicht fehlen, auf ihn die Pfannen über das Feuer zu stellen. Mehrere Kessel und Pfannen besitzt Sabina, größere, kleinere, eine Feuerkelle, zwei Schöpfkellen, ein Reibeisen, zahlreiche hölzerne Teller und Schüsseln, etliche Kannen und Hafen.
Wie oft mag Georg Gemelich in den folgenden Wochen den Blick von diesen Gegenständen abgewendet und flehentlich zum Himmel gerichtet haben, oder hat er – verständlich wär’s – mit Gott gehadert, ihn verflucht? Hat er sich gar selbst schwere Vorwürfe gemacht, und warum haben die Behörden denn nicht rechtzeitig vor der Gefahr gewarnt?
Georg Gemelich hat in den Tagen nach Ostern gar keine Zeit, sich mit Warnungen abzugeben, erzählt das Haus, denn er muss ein neues Instrument bauen, die Zeit drängt. Auch erste Gerüchte aus dem Unterland, wo in Schwaz eine Infektion ausbricht, unterdrückt der Arbeitseifer. Außerdem – warum sich das Leben mit Ängsten zusätzlich erschweren? Und wenn einen bange Gedanken dennoch quälen, die Gewohnheiten sind das beste Schlafmittel, die tägliche Tretmühle, die erprobten Handgriffe, sie lenken ab und lassen einen nach verrichteter Arbeit müde ins Bett sinken. Und Gemelich kommt mit der Arbeit gut voran, bald fehlt nur noch das Gehäuse für die Orgel, höchste Zeit also, dass endlich Michael Piertaler auftaucht, zuständig für die Holzarbeiten und Ornamente, Tischler und Bildhauer von Beruf.
Inzwischen beschäftigt die Infektion in Schwaz längst die Innsbrucker Behörden. Die Regierung ordnet an, Schwaz zu sperren, in Innsbruck und Hall Wachen aufzustellen und auch alle anderen Maßnahmen zu ergreifen, die in dergleichen Fällen seit jeher üblich sind. Und genau darin liegt das Problem. Aus Angst vor einer Massenpanik wird auf Verharmlosung gesetzt und der Ernstfall billigend in Kauf genommen, das findet durchaus Parallelen in anderen Städten. Als zum Beispiel in Bremen 1623 die Pest ausbricht, verzichtet der Stadtrat aus wirtschaftlichen Überlegungen auf verstärkte Maßnahmen, ähnlich reagiert die Regierung in Venedig im Jahr 1576. Und in Barcelona bringt es ein Gerbermeister im Jahr 1651 auf den Punkt, er beschuldigt die Reichen, aus Handelsinteressen die Pestwarnungen hinausgeschoben zu haben.
Einschränkungen bedeuten den Einbruch des Warenaustauschs und so häufen sich auch bei den Innsbrucker Behörden sofort die Beschwerden. Durch die Sperre von Schwaz werde nicht nur der Berg- und Schmelzwerkshandel, sondern das gesamte öffentliche Leben schwer getroffen, beklagen die fuggerschen Faktoren beim Stadtrichter von Innsbruck, zu jener Zeit ein Mann namens Georg Faustner, gebürtiger Schwazer und Säckler von Beruf. Auch Gemelich wird nervös, wo bleibt Piertaler?
Es erfolgt die Aufhebung der Sperre, die Wachen an den Stadttoren werden abgezogen. Endlich, um Pfingsten, erzählt das Haus, trifft der Tischler Michael Piertaler in der Innstraße ein. Sofort fällt dem Orgelbauer auf, dass mit Piertaler etwas nicht in Ordnung ist, er wirkt so niedergeschlagen, müde. Gemelich fragt nach, und was er erfährt, ist niederschmetternd: Frau und Kind des Michael Piertaler sind vor wenigen Tagen gestorben. Gemelich ist zweifelsohne bestürzt, wie auf diese Nachricht reagieren?
Ein paar Sekunden verstreichen, vielleicht Minuten, bestimmt aber viel zu wenig Zeit, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Was geht in Gemelich vor, handelt er fahrlässig, glaubt er, dem Tod trotzen zu können? Warum beherbergt er den Tischler und weist ihm das Bett eines der Orgelbauergesellen zu, der zurzeit nicht in der Stadt ist und vom Meister erst am anderen Tag wieder erwartet wird?
Am nächsten Tag kehrt Michael Piertaler in seine Heimatstadt Schwaz zurück. Gleich am Morgen wird das Bettzeug, auf dem er übernachtet hat, gewaschen, am Dach zum Trocknen ausgelegt und bis zum Abend dort gelassen; dann überzieht Sabina Gemelich das Bett erneut. In dieser Nacht benützen Tobias, der Sohn Gemelichs, und ein Geselle des Orgelbauers das Bett.
Was das Haus nun von sich gibt, ist eine Chronologie des Grauens:
Anfang Juni erkrankt Tobias, er stirbt am 5. Juni, zwei Tage später der Geselle, am 23. Juni eine Tochter Gemelichs, ihr Name Maria. Sabina und Georg sind außer sich vor Trauer, nehmen nur entfernt wahr, dass einen Tag nach dem Tod der
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