Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)
Aufforderung unmöglich nachkommen könne, da er dadurch sein Backhaus verliere und an den Bettelstab komme. Außerdem sei seine Wohnung so sehr von den Räumen der Gemelichs abgesondert, dass keine Gefahr einer Infizierung bestehe. Der Stadtrat scheint Faigls Ansuchen zunächst zuzustimmen, der erste Stock des Hauses wird hermetisch abgeriegelt, Faigl darf bleiben. Drei Tage nach Gemelichs Tod wird allerdings auch die Bäckerfamilie ins Bresthaus eingewiesen.
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Die Stadt gleicht einem Pulverfass, wilde Gerüchte gehen um, Anschuldigungen auf offener Straße sind keine Seltenheit, überall mutmaßen die Menschen pestilenzische Zeichen. Zwischen Seuche und Sittenverfall besteht ein enger Zusammenhang, die Epidemie ist eine Strafe Gottes, davon gehen die Zeitgenossen aus. Alle öffentlichen Vergnügungen werden verboten, die Wirte stöhnen.
Paul Gassler plagen ganz andere Sorgen, sein Betrieb befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Wohnstatt Gemelichs. Grund genug, das Schlimmste zu befürchten, zumal im Nachbarhaus des Orgelbauers drei Tote zu beklagen sind. Und des Sterbens kein Ende, dem Rotgerber Scharrer in der Innstraße 13 ist ein Kind gegangen und gleich nebenan in der Innstraße 15 sind zwei Mädchen Opfer der Pest. Gassler gerät in Panik, schon die nächste Meldung, die Seuche hat dem Georg Krapff in der Kotlacke einen Sohn genommen.
Ähnlich wie Paul Gassler ergeht es Hans Stanner, er und seine Frau sind in heller Aufregung, denn in der Silbergasse grassiert die Seuche, selbst der Dr. Weinhart hat die Pest im Haus. Auch die Familie May kommt nicht zur Ruhe, das Nachbarhaus wird unter Quarantäne gestellt. Gleiches hört man vom Haus des Stadtschreibers in der Seilergasse 7. Und beim Gasthaus Goldener Hirsch in der Seilergasse 9 prangt ein weißes Kreuz vor der Eingangstür, um das Lokal als verseucht zu markieren. Der Wirt Frölich, seine Mutter, seine Frau und sein Kind, sie alle rafft die Seuche hinweg, auch einer der Kellner ist gestorben.
Die Bader, Handwerkschirurgen und Ärzte haben Hochkonjunktur, sind heillos überfordert, zumal sie sich auf die antiken Autoritäten berufen – und deren therapeutische Maßnahmen gegen die Pest sind mehr als dürftig. Dass ein Galen einst den Rat erteilte, bei Pestgefahr so schnell wie möglich zu fliehen, sagt alles. Auch Dr. Guarinoni bezieht sich auf die altehrwürdigen Experten, unterstützt in ihrem Sinne das Tierhalteverbot und erweist sich als Freizeitdichter – „Was ubel reucht und stinckt / Dem Menschen allzeit schaden bringt.“
Da man an den Universitäten an der Körpersaftlehre festhält, werden europaweit ähnliche Behandlungsmuster angewendet – man lässt zur Ader. Was sonst noch verordnet und angewendet wird, liest sich wie ein Lexikon der Hilflosigkeit. Viele Ärzte empfehlen einen Klimawechsel, Feuchtigkeit und Hitze gelten als infektionsfördernd, daher auch der Rat an Gemelich und Faigl, sich in die kühlere Bergwelt zurückzuziehen. Andere schlagen vor, auf warme Waschungen zu verzichten, da nach hippokratischer Lehre feuchte Hitze die Poren der Haut erweitere, und man muss den Miasmen den Weg doch nicht ebnen, oder? Dass Menschen der Körperreinigung damals so wenig Bedeutung zumessen, hat also einen einfachen Grund.
Das glaubst du doch selbst nicht!
Nimm Ludwig XIV .! Dieser Herrscher ist bekannt dafür, dass er, statt sich zu waschen, auf Parfum und Puder setzt, und nicht etwa, weil er daran Gefallen findet, sondern weil seine Ärzte es ihm empfehlen. Noch im 19. Jahrhundert gilt warmes Wasser den Doktoren als verdächtig.
Da die antiken Behandlungsmethoden nicht greifen, verlegen sich die Ärzte zunehmend auf die Suche nach den Ursachen der Seuche. Dass deren Ausbrüche und Verläufe von den Sternen bestimmt werden, gilt vielen Medizinern jener Zeit als ausgemachte Sache. Auch werden ab dem 13. Jahrhundert den Medizinstudenten astronomische und astrologische Kenntnisse vermittelt, die Universitätsabgänger stehen dann im Ernstfall so armselig da wie die beiden Ärzte aus Padua im Jahr 1555, als die Pest sich nicht an die vorgegebenen astrologischen Konstellationen hält. Aber was will man den Ärzten vorwerfen, sie sind einem immensen psychologischen Druck ausgesetzt, riskieren durch den direkten Kontakt mit den Infizierten, sich selbst anzustecken. Schlimmer noch als den Ärzten ergeht es den Handwerkschirurgen, sie haben die Aufgabe, Pestbeulen aufzuschneiden, werden von der Bevölkerung gemieden und ihr Ansehen sinkt
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