Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)
die Freiheitskämpfer allmählich bis zur Triumphpforte durchschlagen:
„Die Stadt erbebte vom Donner der Kanonen, vom Feuer des kleinen Gewehrs, vom Gerassel der Wagen und vom Sprengen der Kavallerie, von dem Jauchzen der Bauern und vom Angstgeschrei der Bewohner.“
Dipauli weiß, wovon er spricht, er ist Augenzeuge, wohnt in der Maria-Theresien-Straße 1, heute bekannt als Stocker-Haus. Einst besaß es ein Urenkel des Minnesängers Oswald von Wolkenstein. Mit Dipauli unter einem Dach lebt auch der bayerische Kreisrat Arnold Mieg, aufgrund seiner Herkunft ohnehin erklärtes Feindbild der Tiroler Freiheitsrecken. Ebenerdig im Haus betreibt seit einigen Jahren die Familie Uffheimer einen Laden, in dem sie Tuchwaren verkauft.
An den Namen erinnere ich mich!
Die Uffheimer hat der Erfolg der Familie May in die Stadt gelockt, bald drauf sind sie den Mays familiär verbunden, Jonathan Uffheimer heiratet eine Tochter des Abraham May. Auch folgen sie den Mays als Grundbesitzer, wie das Haus in der Schlossergasse erzählt: Wo Hans Paur sein Buchhandlungsglück gefeiert, später Abraham May sein Geschäft erweitert hat, zieht 1775 die Familie Uffheimer ein. 1806 stirbt Lazarus Uffheimer, seine Frau Sarah führt das Geschäft in der Maria-Theresien-Straße weiter und bringt sich in den Tiroler Freiheitskampf ein, indem sie die heimischen Truppen finanziell unterstützt. Dennoch wird ihr Geschäft am 12. April 1809 von Einheiten des Tiroler Landsturms überfallen.
„Nun begann eine allgemeine Plünderung der Judenfamilien“, schreibt Dipauli, er selbst kommt mit dem Schrecken davon, rettet sein Leben, indem er seine konfessionelle Herkunft durch ein rasch aufgesagtes Glaubensbekenntnis beweist. Stellt sich die Frage, von wem die ortsfremden Aufständischen wissen, wo die jüdischen Familien wohnen. Der Verdacht liegt nahe, dass sie auf dem linksseitigen Innufer davon in Kenntnis gesetzt wurden.
Was erzählt das Haus, in dem wir uns befinden, vom 12. April 1809? Der Blick auf die Erstürmung der Stadt muss ein ausgezeichneter gewesen sein, als an diesem Tag die Höttinger Freiheitskämpfer die an der Brücke bei ihren Geschützen aufgestellten französischen Kanoniere erschossen und die Stadt befreit hatten, wie ein Chronist wissen lässt, um dann hinzuzufügen: „Zum Andenken an diese Heldentat wurde über dem breiten Fenster des ersten Stockes am 7. 6. 1903 eine Gedenktafel mit der kurzen Inschrift 12. April 1809 angebracht.“
Das Haus wurde inzwischen mehrfach renoviert und umgebaut, an die vermeintliche Heldentat gemahnt keine Tafel mehr.
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Aber nehmen wir an, der Freiheitskampf interessiert dich nicht, du hast andere Sorgen, bist neu in der Stadt und auf Wohnungssuche. Wir schreiben das Jahr 1888, soeben bist du mit dem Frühzug aus Wien gekommen, rasch durch die Bahnhofshalle hinausgetreten – und von wegen es gäbe hier keine Fiaker! Noch im Zug waren dir die Worte des Wiener Dichters Ignaz Franz Castelli durch den Kopf gegangen, der sich einst über die droschkenlose Alpenstadt mokiert hatte. Du weißt ja auch nicht, dass die einspännigen Kutschen erst seit kurzer Zeit das Stadtbild prägen, schaust hinaus auf den ungepflasterten Vorplatz, dort eine Reihe von Zierbäumen, die den Platz durchziehen, und Gaslampen, die 1894 gegen die ersten elektrischen Laternen der Stadt ausgetauscht werden.
Damals gab es wenigstens noch Grün auf dem Platz!
Nur ein paar Jahre noch, dann sind die Bäume Geschichte. Du bist also mit dem Frühzug angekommen, wolltest ursprünglich gleich gegenüber des Bahnhofs im Hotel Europa ein Zimmer beziehen, doch da fiel dein Blick auf ein Hotel, das es inzwischen nicht mehr gibt, ein Haus, in dem jetzt unter anderem eine Fahrschule untergebracht ist.
Sag mal, warum sollte ich von Wien nach Innsbruck übersiedeln wollen?
Du bist nicht der einzige, den es hierher zieht. Handwerker, Kaufleute, kleine Gewerbetreibende, Ärzte und Anwälte, sie alle lockt der Ruf einer Stadt, die einen ungeheuren Aufschwung erlebt und seit dem Ausbau der Bahn als Wirtschaftsstandort attraktiv ist. Ein Garant für die Konjunktur ist auch die gesetzliche Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger der Monarchie aus dem Jahr 1867, das bringt eine Gewährung von Niederlassungsfreiheit mit sich. Ohne dieses Dekret wäre es nicht möglich gewesen, dass sich die jüdischen Familien Schwarz, Bauer und Lazar hier ansiedeln. Du wirst ihre Geschäfte bei deinen ersten Spaziergängen durch die Stadt antreffen
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