Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)
Fenster deiner Wohnung aus hättest du am 3. Jänner 1871 Kaiser Franz Joseph I. erblicken können, seine Majestät stattete der Schule einen halbstündigen Besuch ab, ist in der Schulchronik zu lesen.
Als im August 1914 der Krieg ausbricht, heißt das für die Schüler zunächst einmal Verlängerung der Ferien, denn die Räumlichkeiten werden den ganzen September lang als Kaserne für die Standschützenkompanien benötigt. Erst im Oktober beginnt der Schulbetrieb, 322 Schüler sind eingeschrieben, sie kommen zum Teil aus anderen Lehranstalten der Stadt, da inzwischen viele Verwundete eintreffen und die Schulen als Reservespitäler gebraucht werden. Dasselbe blüht auch dem Schulpalast, im Dezember 1914 steht nur noch ein Raum für den Unterricht zur Verfügung, der Rest des Gebäudes wird zum Spital umfunktioniert, was die Stadt im darauf folgenden Schuljahr aber wieder rückgängig machen kann.
Angefeuert vom Patriotismus der Schulleitung bestimmen Sammelaktionen den Schulalltag, „Gold geb ich für Eisen“ lautet das Motto, Kanonen braucht der Kaiser, alle Kirchenglocken werden abmontiert. Was das Haus dann von der Kriegserklärung Italiens an Österreich am 23. Mai 1915 erzählt, lässt sich als Stimmungsbericht für die ganze Monarchie lesen: „30 Jahre hat dieser Staat die Segnungen des Dreibundes genossen und nachdem Österreich und Deutschland vereint zehn Monat gegen eine Übermacht von Feinden überall siegreich kämpften, fällt dieser treuelose ‚saubere Bundesgenosse‘ über uns her, gelockt vom englischen Geld und vielen Verheißungen.“
Am 30. November stirbt unser geliebter Herrscher, Kaiser Franz Joseph I., erzählt das Haus, eine Woche später wird in der St.-Nikolaus-Kirche eine Trauerfeier abgehalten. Traurig sind die Zeiten wirklich, Hunger plagt die Schüler, keine Schuhe haben sie mehr, endlich bekommen sie welche mit Holzsohlen, der Gemeinderat hat es so beschlossen. Auch erhalten die Schüler bald Gelegenheit, das neue Schuhwerk herzuzeigen, in der Maria-Theresien-Straße stehen sie Spalier, als Kaiser Karl I. von der Südfront und seine Gemahlin Zita von Wien kommend in Innsbruck eintreffen.
Als Gerüchte kursieren, dass feindliche Flieger die Stadt bombardieren, proben die Schüler den Ernstfall, als Sammelplatz gilt der Hausgang zu ebener Erde, ferner stehen Verhaltensregeln im Freien auf dem Stundenplan. Doch die Moral der Schüler lässt zu wünschen übrig, immer mehr bleiben dem Unterricht fern. Stundenlanges Anstehen um Lebensmittel entschuldigt sie zwar, aber die Ordnung muss aufrechterhalten werden, erzählt der Schulpalast und klagt zugleich über den Heizstoffmangel, die Klassen gleichen Kältekammern. Die Firma Schindler überlässt der Schule mehrere Kistchen mit Marmelade zur Verteilung an die Schüler, so endet das Schuljahr 1917/18.
Zu Beginn des nächsten Schuljahres ist die Schülerzahl dezimiert, die Spanische Grippe zieht eine Spur der Zerstörung durch die Stadt, alle Schulen Innsbrucks werden gesperrt. Wenigstens ist der Krieg zu Ende, der Hunger aber nicht, für die unterernährten Stadtkinder setzt während der Ferien die so genannte „Amerikanische Ausspeisung“ ein. Die Kinder lernen wieder zu leben, währenddessen der Schulchronist schreibt:
„Amerika, welches eigentlich durch sein Eingreifen den Krieg zu unseren Ungunsten entschied, hatte Ursache genug, daß es sich der hungernden Tirolerkinder annahm. Dank brauchen wir dem amerikanischen Volke keinen abzustatten.“
Die Front ist aufgelöst, hunderttausende Soldaten sind in Bewegung, in Autokolonnen oder zu Fuß treffen sie in der Stadt ein. Chaos bricht aus, Bürgergarden werden gebildet, um den Rückzug zu regeln und den Plünderungen Vorschub zu leisten. Das gelingt nicht immer, so wird unter anderem eines der Geschäfte Samuel Schindlers überfallen.
Die Lage ist katastrophal und Südtirol verloren, jammert das Haus in der Innstraße 36, und während Hungerdemonstrationen die Monarchiestädte lahmlegen, paukt der Schulchronist:
„Schulden und Lasten hat man dem armen Land aufgehalst, daß es unmöglich bestehen kann, wenn nicht Änderungen an den Gewaltfriedensbestimmungen platzgreifen. Das Volk in der Republik Österreich ist zum Sklavendienst verurteilt worden. Hoffentlich sprengen unsere Nachkommen in nicht allzuferner Zeit die Sklavenfesseln.“
VI
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1920, du lebst jetzt seit mehr als drei Jahrzehnten in der Stadt und bist Stammgast im Café Maximilian, dessen luxuriöses Interieur
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