Im Angesicht der Schuld
Apparat.
Ohne ein Wort der Begrüßung ratterte sie los. Hinter der Wut in ihrer Stimme verbarg sich die Angst vor einer schrecklichen Wahrheit. » Helen, sag mir, dass das ein schlechter Scherz ist. Sag mir, dass du dich aus irgendeinem Grund über die Ansage auf meinem AB geärgert hast und mir zur Strafe endlich mal einen gehörigen Schreck versetzen wolltest Sag mir, dass … «
» Isa … Gregor ist tot. Er ist gestern Abend gestorben, als er vom Balkon seiner Kanzlei stürzte. « Würde ich diese Sätze, wenn ich sie nur oft genug wiederholte, irgendwann verinnerl i chen? Würden sie irgendwann in mir bleiben, ohne dass ich versuchte, sie durch Würgen oder Weinen wieder loszuwerden, sie in der Toilette hinunterzuspülen oder auf meinem Pullover vertrocknen zu lassen?
» Wie kann er denn tot sein? «, stammelte sie.
» Er ist fünf Stockwerke tief gefallen. «
Die Vorstellung von der Wucht des Aufpralls stand im Raum und ließ uns beide schweigen. Isabelles Erschütterung vermisc h te sich mit meiner. Sie liebte Gregor wie einen großen Bruder, dabei hätte er ihr Vater sein können. Meine Schwester war zwölf Jahre jünger als ich. Sie war der Nachkömmling, der die Ehe meiner Eltern hatte retten sollen. Zum Glück für ihr Seelenheil hatte sie sich nie die Schuld daran gegeben, dass dieser Plan gescheitert war.
» Vom Balkon, sagst du? « Vor lauter Schniefen war sie kaum zu verstehen. » Erwachsene Männer fallen nicht vom Balkon –außer sie sind lebensmüde, sturzbetrunken oder jemand will, dass sie fallen. «
» Oder sie haben einen Herzinfarkt. Gregor hatte längst mal wieder zu einem Check-up gehen wollen, aber immer ist ihm etwas dazwischengekommen. Hätte ich nur darauf bestanden … «
» Und wenn ihn jemand gestoßen hat? «
» Das kann ich mir nicht vorstellen, Isa. Wer sollte Gregor in die Tiefe stoßen? « Mein Herz begann wieder, unkontrolliert zu rasen, und nahm mir den Atem. Mit dem Telefon am Ohr stand ich auf, ging zum Fenster und öffnete es weit. Ich atmete die kalte Luft ein.
» Und wenn es jemand war, der sich an ihm rächen wollte? Vielleicht hat er eine Frau bei ihrer Scheidung oder bei einer Sorgerechtsfrage so gut vertreten, dass er damit den Hass ihres Mannes auf sich gezogen hat –oder umgekehrt. Es wäre sicher nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. «
Die Kälte betäubte meinen Körper. » Gregor war sich dieser Gefahren bewusst, Isa. Er hätte so einen Menschen nicht empfangen, solange er allein in der Kanzlei war. In solchen Fällen hat er dafür gesorgt, dass eine seiner Mitarbeiterinnen im Nebenzimmer war. Er ist kein Risiko eingegangen. «
» Manchmal weiß man gar nicht, dass man eines eingeht, Helen. Vielleicht war es jemand, den Gregor kannte und dem er das nicht zugetraut hätte, jemand, der durchgedreht ist. «
» Die Polizei sagt, dass diese Art Tötungsdelikte eher die Ausnahme ist. Sie glauben an einen Suizid. «
» Nie im Leben! « Sie schnäuzte sich. » Was glaubst du? «
» Ich glaube, dass es ein Unfall war. « Ich ließ das Fenster offen und setzte mich zurück aufs Sofa. » Könntest du morgen früh bei Ma vorbeifahren, ihr von Gregor erzählen und sie bitten, zu Hause in Köln zu bleiben? Ich brauche meine Kraft, um nicht in Einzelteile auseinander zu brechen. Ich habe keine Kraft übrig für sie. Meinst du, du könntest das für mich tun? «
» Helen, du kennst sie länger als ich, sie wird sofort zu dir fahren wollen. « Isabelle machte keinen Hehl daraus, dass ihr jede andere Bitte um Hilfe lieber gewesen wäre.
» Wie soll ich das bewerkstelligen? «
» So, wie du alles bewerkstelligst –ohne groß drum herum zu reden. «
» Es tut so entsetzlich weh, Helen … «
» Ja. «
N ach dem Gespräch mit Isabelle hatte ich mir einen Pullover aus Gregors Schrank geholt und ihn mir um Schultern und Hals geschlungen. Ich umhüllte mich mit seinem Geruch und stellte mir vor, es wären seine Arme, die mich hielten. Meine Finger wanderten zu dem Anker um meinen Hals. Ich betete, er würde genug Kraft entfalten, um mich zu stärken.
Was hätte ich dafür gegeben, mit meiner Freundin Fee spr e chen zu können. Gleich zu Beginn unseres Studiums hatten wir uns kennen gelernt und eine Seelenverwandtschaft festgestellt, die mit den Jahren noch gewachsen war. Jetzt war sie weit fort und unerreichbar. Fee hatte das gewagt, wovon viele Menschen ihr Leben lang träumen: Sie hatte Job und Wohnung gekündigt, um für ein Jahr die Welt zu
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