Im Angesicht der Schuld
bereisen. Ihre erste Station war Tibet, wo sie abgeschlossen von der Außenwelt vier Wochen in einem Kloster verbringen würde. Eine dieser Wochen war bereits vergangen. Es würde also noch dauern, bis sie sich bei mir meldete, wie sie es versproche n h atte. In Gedanken setzte ich mich neben sie und erzählte ihr von Gregor.
Es war still in der Wohnung. Nachdem ich alle Lichter g e löscht hatte, drückte ich Gregors Foto an die Brust und setzte mich in seinen Sessel. Mit untergeschlagenen Beinen saß ich da und starrte blicklos in das Licht der Kerze. Ich fühlte mich verwundet, so als sei ein lebenswichtiger Teil von mir mit Gregor in die Tiefe gefallen. Als sei etwas zerstört, das nie wieder gut werden, nie wieder heilen könne. Ich hatte meinen Mann verloren und Jana ihren Vater. Und ich wusste nicht, wie es möglich sein sollte, mit diesem Verlust weiterzuleben.
Die Dunkelheit und die Stille schufen ein Vakuum, das ich mit Erinnerungen füllte. Sie waren lebendig, aber sie hatten nicht die Kraft, mir die Wirklichkeit als Traum erscheinen zu lassen. Im Gegensatz zu mir würde Jana später keine Erinnerungen mehr an Gregor haben. Für sie würde er der Vater auf den Fotos sein, der Vater aus den Erzählungen. Was war das für ein Schicksal, das einer Eineinhalbjährigen den Vater entriss? Was für ein perfider Sinn sollte darin verborgen liegen?
Von tief drinnen kam ein Schluchzen hoch, das den Raum erfüllte. Es hatte nichts Menschliches, sondern klang wie das Heulen eines schwer verwundeten Tieres. Es war so überwält i gend, dass mich im selben Moment eine unbändige Angst erfüllte, ich würde verrückt, wenn es auch nur Sekunden länger währte. Aber ich vermochte nichts dagegen auszurichten, es war stärker als ich. Zusammengekrümmt grub ich mir die Nägel in die Arme. Der Schmerz in meinem Inneren ließ sich jedoch nicht betäuben.
Irgendwann war dieser Anfall vorüber und entlie ß m ich e r schöpft aus seinen Fängen. Ich wusste, wie wichtig es gewesen wäre zu schlafen, um mir meine Kraft zu erhalten, aber ich konnte meine Augen nicht schließen, ohne ihn dort auf der Erde liegen zu sehen –mit diesem zerschundenen Körper, den nichts mehr zum Leben erwecken konnte.
Das Läuten an der Tür machte mich einen verwirrenden M o ment lang glauben, Gregor stehe davor und warte, dass ich ihn hereinlasse. Ich wollte diesen Moment festhalten, wollte, dass er ewig währte. Bewegungslos verharrte ich im Sessel, als es ein zweites Mal läutete, dieses Mal länger, fordernder. Ich stand auf und ging mit schleppenden Schritten zur Tür.
Es war nicht Gregor, sondern Joost. Stumm sah ich ihn an. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe eingegraben, seine Haut wirkte grau. In seinem Blick spiegelte sich Erschütterung. Mit hängenden Armen ging ich auf ihn zu und legte meine Stirn an seine Schulter. Er griff nach meinen Händen und hielt sie.
» Ich wollte nach dir sehen «, sagte er mit belegter Stimme. » Es ist grauenvoll … ein Unglück … « Selbst das Flüstern schien ihn anzustrengen. » Kann ich irgendetwas für dich tun, Helen? «
Ich schüttelte den Kopf.
» Du weißt, wie wichtig es ist, dass du jetzt … «
Meine Finger verschlossen ihm den Mund, mein Blick bat ihn, zu schweigen. » Fahr nach Hause, Joost, damit du da bist, wenn Annette aufwacht. Sie macht sich sonst Sorgen. «
» Ich mache mir Sorgen um dich, Helen. Soll ich dir vielleicht ein Beruhigungsmittel spritzen? «
» Nein! Wenn ich die Schmerzen betäube, betäube ic h a uch alles andere. Er ist fort, Joost, aber ich spüre ihn in meinen Gefühlen … mit jeder Faser meines Körpers. Mit einem Beruhigungsmittel wäre es so, als müsse er ein zweites Mal sterben. Als würde ich ihn … «
» Er kann nicht in dir weiterleben, Helen. Du musst begreifen, dass er tot ist. «
Von einer Sekunde auf die andere erfüllte mich eine ungehe u re Wut. » Gregors Tod hat aus Jana eine Halbwaise und aus mir eine Witwe gemacht. Bis gestern Abend waren wir eine kleine glückliche Familie voller Pläne und Hoffnungen. Das Einzige, was mir von Gregor bleibt, sind meine Gefühle und meine Erinnerungen. Jana werden nicht einmal die bleiben. Sie ist zu jung. «
Mit dem Rücken der zur Faust geballten Hand wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. » Wenn mich etwas verrückt macht, dann ist es sein Tod, der mir völlig unerklärlich ist. «
» Hat er in letzter Zeit über Beschwerden geklagt? «
» Gregor hat sich nicht selbst getötet «
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