Im Angesicht der Schuld
Terminkalender und das Adressbuch Ihres Mannes haben wir bereits aus seiner Kanzlei mitgenommen. Hat Ihr Mann Tagebuch geschrieben? «
Ich presste die Lippen zusammen, um nicht zu schrei en, und schüttelte den Kopf. Wortlos ging ich voraus in unser Arbeit s zim mer und deutete auf den linken der beiden Schreibtische, die aneinander gerückt waren.
Während der Beamte begann, die Unterlagen auf Gregors Schreibtisch zu sichten, wandte seine Kollegin sich an mich: » Wo könnte Ihr Mann einen Abschiedsbrief hinterlegt haben? «
» Einen Abschiedsbrief? « Jetzt hätte ich doch beinahe g e schrien. » Gregor hätte das weder sich selbst noch uns angetan, verstehen Sie? «
» Frau Gaspary «, sagte sie leise, » vielleicht hat er keinen anderen Ausweg gesehen. Manche Menschen sind der Überze u gung, sie würden ihren Angehörigen mit ihrem Weiterleben noch viel Schlimmeres antun. «
» Gregor? « Meine Stimme war nur noch ein Wimmern.
» Er sollte uns mit seinem Weiterleben etwas antun? Wenn Sie ihn gekannt hätten, würden Sie so etwas nicht sagen. « Ich lehnte mich kraftlos gegen die Wand.
» Erlauben Sie, dass wir uns umsehen? « Sie hatte ihre Frage behutsam gestellt, dennoch war ihre Entschlossenheit unübe r hörbar.
» Ja. «
» Möchten Sie sich vielleicht solange hinlegen? «
» Nein. «
Systematisch besah sich Kai-Uwe Andres Gregors Unterlagen: Er zog Schubladen heraus und öffnete Ordner. Er nickte seiner Kollegin zu. Was auch immer dieses Nicken bedeutete, sie schien darauf zu reagieren.
» Frau Gaspary, zeigen Sie mir bitte Ihr Schlafzimmer? «
» Unser Schlafzimmer? «
» Ja … bitte. «
Ich wusste nicht, was mit meinem Körper geschah, er schien mir immer weniger zu gehorchen. Konzentriert setzte ich ein Bein vor das andere, ich hatte das Gefühl, auf Stelzen zu gehen. Ich begann zu würgen und schaffte es gerade noch bis zur Toilette. Alles in mir schien sich zusammenzukrampfen. Panik erfasste mich, als das Würgen nicht nachließ, obwohl mein Magen längst leer war. Mit aller mir verbliebenen Kraft atmete ich dagegen an und sank schließlich erschöpft und ausgelaugt neben der Toilette zu Boden. Kalter Schweiß lief mir übers Gesicht und ließ den Pulli an meinem Rücken kleben. Irgen d wann –ich hatte mein Zeitgefühl verloren –spülte ich mir den Mund aus, wusch mein Gesicht und ging hinaus.
Felicitas Kluge hatte auf mich gewartet. » Geht es wieder? «
Statt einer Antwort schloss ich kurz die Augen und öffnete dann die Tür zum Schlafzimmer. Kaum standen wir beide in dem Raum, überfiel mich eine unsagbare Angst, sie könne Gregors Bettzeug berühren. Doch sie blieb in einigem Abstand zu unserem Bett stehen und gab mir Anweisungen, wo ich nach einem Abschiedsbrief suchen sollte: unter seinem Kopfkissen, unter meinem, auf und in beiden Nachttischen.
» Gibt es sonst noch einen Ort, an dem Ihr Mann Ihnen eine Nachricht hinterlassen haben könnte? «, fragte sie.
Es gab nur einen solchen Ort, die Kommode im Flur. Wenn dort ein Brief lag, hätte ich ihn im Vorbeigehen entdecken müssen. Trotzdem lief ich hinaus, um nachzusehen. Mein Herz raste wie unter einer riesengroßen Anstrengung. Ich lehnte mich gegen die Kommode und berührte jeden einzelnen Gegenstand mit den Fingern. Sollten meine Augen mir etwas vorgaukeln, würde ic h z umindest mit meinen Händen die Tatsachen erfa s sen. Es lag dort alles Mögliche –sogar Gregors Schlüsselbund, der mir erst jetzt auffiel.
» Frau Gaspary, würden Sie bitte auch die Post durchsehen? « Felicitas Kluge war neben mich getreten und blickte auf den kleinen Stapel Briefe, die an diesem Vormittag gekommen waren.
Mit einem Mal wurde ich wütend. » Glauben Sie allen Ernstes, mein Mann würde mir seinen Abschiedsbrief per Post schi c ken? «
» Das ist alles schon vorgekommen. «
» Ich habe die Post am Morgen bereits durchgesehen. Die Briefe, die hier liegen, sind allesamt für Gregor. Unter den Briefen, die an mich waren, gab es keinen Abschiedsbrief. Und wenn es einen gegeben hätte, hätte ich sicherlich nicht abgewa r tet, bis mein Mann sich vom Balkon seiner Kanzlei stürzt. Wenn Sie auch nur eine Sekunde lang nachgedacht hätten, würden Sie mich nicht solchen Blödsinn fragen! «
» Ich muss alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, Frau Gasp a ry «, erwiderte sie sachlich.
» So, müssen Sie das. Dann tun Sie es auch und ziehen in Betracht, dass Gregor möglicherweise einem Unfall zum Opfer gefallen ist. «
» Oder einem
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