Im Angesicht der Schuld
Ich schleuderte ihm die Worte ins Gesicht. » Er hat gerne gelebt, er hat einen Sinn in seinem Leben gesehen. « Ich presste meine Faust gegen mein hämmerndes Herz. » Du warst sein Freund, Joost, du weißt das so gut wie ich. «
» Mit Beschwerden meinte ich körperliche. Hat er irgendetwas in dieser Richtung gesagt? «
» Nein. «
» Ist es möglich, dass er dich nicht beunruhigen wollte? «
Das war nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Aber wenn dem so war, warum hatte er dann nicht wenigstens mit Joost gesprochen? Warum hatte er eine Chance verstreichen lassen, die ihm womöglich das Le ben gerettet hätte? Das passte nicht zu Gregor. » Dieser Sekundenherztod, an dem sein Vater gestorben ist, kündigt der sich an? «
» Wie der Name sagt: Es geschieht innerhalb von Sekunden. Du merkst gerade noch, wie dir schlecht wird, und dann ist es schon vorbei. Es ist ein gnädiger Tod. «
» Ein plötzlicher Tod ist nur denen gnädig, die ihn erleiden. « Ich presste meine Lippen zusammen, um das Schluchzen zu unterdrücken.
» Was wirst du jetzt tun, Helen? « Joost schien am Boden zerstört zu sein. Oder sah ich nur das in seinen Augen, was mit mir selbst geschah?
» Ich werde versuchen weiterzugehen. So, wie Gregor es mir geraten hat –Schritt für Schritt, den Blick auf das kleine Stück Weg vor mir gerichtet. «
M it Janas Brabbeln erwachte die Wohnung zum Leben. Seit ein paar Minuten war unsere Tochter wach und begrüßte mit ihrem leisen Singsang den neuen Tag. Wenn sie nicht bald ihre Milch bekam, würde der Singsang lauter werden und dann in forderndes Gebrüll übergehen. Während ich am Herd stand und wartete, dass die Milch warm wurde, empfand ich überdeutlich die tägliche Routine, die –sofern es Jana betraf –unverändert war. Ich füllte die Flasche und ging damit zu ihr hinüber.
Wie jeden Morgen empfing mich ihr Lächeln, ihr verschlaf e ner Blick, der auf dem Weg vom Traumland zur Wirklichkeit war. Sie griff nach der Flasche, ließ sich zurückfallen und begann, mit halb geschlossenen Lidern zu saugen. Ich setzte mich in den Schaukelstuhl, der neben ihrem Bett stand, und sah ihr beim Trinken zu. E s b estand keine Eile. Gregor würde nicht jeden Moment aus dem Bad kommen, sich im Schlafzimmer anziehen und dann gemeinsam mit uns frühstücken, bevor er sich zwei Straßen weiter an die Arbeit machte. Für uns war ein neuer Lebensabschnitt angebrochen. Ich wusste das. Jana war weit davon entfernt, es zu begreifen.
Als sie fertig getrunken hatte, schmiss sie die Flasche durch die Gitterstäbe und streckte mir ihre Ärmchen entgegen. Ich hob sie heraus und ließ mich gemeinsam mit ihr in den Schauke l stuhl zurücksinken. Am liebsten hätte ich sie fest an mich gedrückt und nicht mehr losgelassen. Stattdessen setzte ich sie auf meine Knie, strich ihr die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und schaukelte sanft hin und her.
» Gestern Abend ist dein Papa gestorben, Jana. «
» Pa …? « Das Wort Papa hatte ausgereicht, um ihre Augen voller Vorfreude glänzen zu lassen. Sie rutschte von meinen Knien und lief hinaus.
Ich folgte ihr, erst ins Schlafzimmer, dann ins Bad und schlie ß lich in die Küche.
» Pa …? « Sie sah mich mit großen Augen an.
Entschlossen, nicht vor diesen Augen zusammenzubrechen, nahm ich sie an der Hand und ging mit ihr ins Wohnzimmer. Vor Gregors Foto blieben wir stehen. Während sie unverständl i che Laute von sich gab, hinterließ ihr Zeigefinger Spuren auf Gregors Gesicht.
Meines fühlte sich geschwollen an. Es brannte vom Salz der Tränen, die während der Nacht darüber hinweggeströmt waren.
Als es klingelte, rannte Jana aufgeregt zur Tür. Wie immer reckte sie sich der Türklinke entgegen, noch weit davon entfernt, sie erreichen zu können. Würde ich jetz t n ach der Klinke greifen, wäre das Geschrei groß. Also hob ich sie hoch und ließ sie die Tür öffnen.
Mariele Nowak schenkte Jana ein Lächeln und mir einen mitfühlenden Blick. » Wenn es Ihnen recht ist, Frau Gaspary, dann würde ich Ihnen in den nächsten Tagen gerne ein wenig den Rücken frei halten. « Jana redete in ihrem Kauderwelsch so lange auf unsere Nachbarin ein, bis diese sie auf den Arm nahm. » Es wird vieles auf Sie einströmen. «
» Danke, Frau Nowak … « Mit einer Handbewegung bat ich sie herein. Mitten im Flur blieb ich stehen. Bis gestern hatte ich zu jeder Zeit genau gewusst, was als Nächstes zu tun war. Jeder Tag war einem Plan gefolgt, auch wenn Jana dazu
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