Im Angesicht der Schuld
Gregor, wenn überhaupt, dann nur als Störfaktor wahrnahm. Ich wollte mit Hannes allein sein und hatte kein Interesse an Unterhaltungen mit seinem Mitbewo h ner. Dieses Interesse kam erst, als die Probleme mit Hannes anfingen und ich einen Zuhörer brauchte.
Dein Vater war der geborene gute Freund: geduldig, einfüh l sam und klug. Und ich war eine ausgemachte Egoistin. Ich nahm von ihm, was ich bekommen konnte. Hatte Hannes im Streit die Wohnung verlassen und war in die nächste Kneipe verschwunden, klopfte ich an Gregors Tür und ließ ihn meine Wunden verarzten. Waren meine Tränen getrocknet und meine Zuversicht zurückerobert, dann ließ ic h i hn stehen –ohne ein Wort des Dankes, ohne ihn jemals zu fragen, wie es ihm ging, ohne mich umzudrehen. Ich nahm Gregors Hilfe als selbstve r ständlich an.
Das ging ein Jahr lang so, bis Hannes sich von mir trennte, weil er sich auf absehbare Zeit ausschließlich seiner Karriere widmen wollte. Wütend, enttäuscht und verletzt verließ ich die Wohnung, nicht ohne Hannes zum Abschied noch ein paar deftige Worte an den Kopf zu werfen. Von Gregor verabschied e te ich mich nicht.
D as Klingeln an der Tür ließ mich hochschrecken. Es war ein Uhr nachts. Mit zögernden Schritten ging ich zur Tür und sah durch den Spion, bevor ich öffnete.
» Annette … «, sagte ich abwehrend.
» Mein Gott, Helen, was ist nur los? Wir haben uns Sorgen gemacht. « Annette brachte es selbst um ein Uhr in der Nacht fertig, einen gepflegten Eindruck zu machen. Hinter ihr stand Joost, der so aussah, wie ich mich fühlte. Als ich nicht antwort e te, packte Annette mich an den Oberarmen und zwang mich, sie anzusehen.
» Was los ist? «, wiederholte ich ihre Frage. » Gregor ist tot «
» Und wir haben befürchtet, dass du ihm gleich hinterherg e gangen bist. «
» Er ist nicht gegangen, sondern gefallen «, verbesserte ich sie automatisch.
Sie hielt mich immer noch fest. » Helen, du musst ans Telefon gehen, verstehst du? Ich habe dir heute drei Nachrichten auf den Anrufbeantworter gesprochen. « In ihrem Ton lag ein kaum verhohlener Vorwurf. » Hast du das Band überhaupt abgehört? «
Ich entzog ihr meine Arme. » Wozu? «
» Wozu? « Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte sie nach Luft. Joost legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. » Ich kann dir sagen, wozu: damit deine Freunde nicht mitten in der Nacht hier auftauchen müssen, weil sie sich schreckliche Sorgen um dich machen. Ein Wort von dir hätte genügt. Bei deiner Vorgeschichte ist es ja schließlich nicht ganz abwegig, wenn man sich Gedanken macht. «
Bei meiner Vorgeschichte … Es wäre ein Wunder gewesen, wenn Annette sie nicht erwähnt hätte. » Ihr müsst euch keine Sorgen machen. « Die machte ich mir schon selbst zur Genüge. » Ich komme zurecht. «
» Hast du überhaupt etwas gegessen? Du musst schlafen, das weißt du. Jetzt ist es ein Uhr und … «
Joost drückte ihre Schulter. » Annette, ich glaube, Helen kommt wirklich zurecht. Lass … «
» Aber sieh sie dir nur an! «
Seine Augen deuteten eine Entschuldigung an. » Wir lassen dich jetzt allein, Helen. Versprich mir, dass du dich meldest, falls wir etwas für dich tun können. «
» Versprochen «, sagte ich tonlos und sah den beiden hinterher, während sie zum Auto gingen und abfuhren.
N ach diesem Besuch hatte ich mich unter Gregors Bettdecke verkrochen, meine Augen geschlossen und seinen Geruch eingeatmet. Für den Rest der Nacht hielt ich sein Kopfkissen umschlungen. Wie lange würde sich sein Geruch in unserem Bett halten? Eine Woche? Zwei Wochen? Wie lange würde ich mich an seine Stimme erinnern können? Und wie lange würde mich das letzte Bild von ihm verfolgen?
Gegen Morgen wurde Jana unruhig, und ich holte si e z u mir ins Bett. Nachdem wir eine Weile gekuschelt hatten, setzte sie sich auf und sah sich suchend um.
» Pa …? «
» Dein Papa ist gestorben, Jana. Er kommt nicht wieder. «
» Pa …? «
Traurig schüttelte ich den Kopf, nahm sie auf den Arm und ging mit ihr hinüber ins Wohnzimmer. Vor Gregors Foto blieb ich stehen. Ich zeigte darauf.
» Da ist dein Papa, Jana. Er hat dich sehr lieb, und er hat vor Glück geweint, als du auf die Welt gekommen bist. «
» Da … « Sie berührte mit dem Zeigefinger Gregors Nase.
Ich versuchte ein Lächeln und küsste sie auf die Wange. » Wir werden das schon schaffen, meine Kleine, irgendwie … «
Keine zwei Minuten, nachdem ich den Rollladen hochgezogen
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