Im Angesicht der Schuld
Falle eines privaten Termins gesagt hätte, wer bei ihm saß. Seitdem ich von dem Unfall wusste, war ich mir dessen allerdings nicht mehr so sicher.
Ich fühlte mich entsetzlich. Mir war schlecht, mein Körper machte sich nur noch durch Schmerzen bemerkbar, und ich hätte mich am liebsten in eine dunkle Ecke verkrochen. » Hat Ihr Staatsanwalt bereits eine Entscheidung getroffen, wie es weitergeht? « Ich sah zwischen beiden hin und her.
» Die Ermittlungen laufen noch, Frau Gaspary «, sagte Kai-Uwe Andres. » Sobald wir Näheres wissen, werden wir Ihnen Bescheid geben. «
N achdem ich Jana an diesem ersten Abend ohne Gregor ins Bett gebracht hatte, überfiel mich ein Gefühl unendlicher Einsamkeit. Ruhelos lief ich vom Wohnzimmer in die Küche und dann ins Schlafzimmer, nur um gleich wieder umzukehren. Essen konnte ich nichts, mein Hals war wie zugeschnürt.
Meine Gedanken überschlugen sich. Ich dachte an diesen entsetzlichen Unfall und die Höllenqualen, die Gregor ausg e standen haben musste und die er nicht mit mir geteilt hatte. Gregor war nicht der Mensch gewesen, der unbeschadet aus so etwas hervorgegangen wäre. Ich versuchte mir vorzustellen, was dort oben auf dem Balkon geschehen war. Ich ließ die letzten Tage unseres gemeinsamen Lebens Revue passieren und fand kein einziges Signal, das auch nur im Entferntesten auf einen geplanten Suizid hindeutete. Sprang jemand ohne jede Vorwa r nung aus dem fünften Stock? Hätte ich nicht irgendetwas merken müssen? Du hast ja noch nicht einmal etwas von seinen Qualen nach dem Unfall bemerkt, antwortete meine innere Stimme.
Vor seinem Foto blieb ich stehen. » Was ist bloß geschehen, Gregor? «, flüsterte ich.
Sein ruhiger Blick war für die Ewigkeit eingefangen, meiner hingegen irrte umher und suchte nach Antwor ten. Einem Impuls folgend lief ich ins Arbeitszimmer und durchsuchte, was bereits von der Polizei inspiziert worden war. Die Beamten hatten jedoch nichts von Belang zurückgelassen. Ich setzte mich an Gregors Schreibtisch, legte die Arme auf die Platte und meinen Kopf darauf. » Gregor, hilf mir, bitte. « Als sich das Bild seines Körpers in einem Kühlfach im rechtsmedizinischen Institut vor mein inneres Auge schob, setzte ich mich mit einem Ruck auf.
Mein Herz raste, ich spürte es im ganzen Körper. Von Unruhe getrieben lief ich umher. Um den Anrufbeantworter, auf dem sich mittlerweile sechzehn Nachrichten angesammelt hatten, machte ich einen großen Bogen. Ich wollte keine Anrufe beantworten, ich suchte selbst nach Antworten.
Die Angst, von der Situation, in die Jana und ich geraten waren, überwältigt zu werden, nahm in einer Weise von mir Besitz, die mir nur noch mehr Angst machte. Ich wusste, dass ich nicht in diesen Teufelskreis aus Schlafentzug, Appetitlosi g keit und unaufhörlicher Grübelei geraten durfte, dass er Gift für mich war, aber ich wusste nicht, wie ich mich diesem Kreis entziehen sollte. Hilfe suchend griff ich nach dem Anker, der um meinen Hals hing.
Eliane Stern hatte mir geraten zu überlegen, was ich gerne tat, aber so sehr ich mich auch anstrengte, es fiel mir nichts ein. Gab es überhaupt Menschen, die unter solchen Umständen etwas gerne taten? Die einzige Frage, die ich hätte beantworten können, war die nach meinen Wünschen: Ich wünschte, Gregor würde noch leben, und ich wünschte, die Schmerzen würden aufhören.
Das Telefon läutete, aber ich nahm den Anruf nich t e ntgegen. Auf dem Weg in Janas Zimmer hörte ich die Stimme meiner Mutter, die den Anrufbeantworter besprach. » Helen, es ist alles so entsetzlich. Wenn du nur ans Telefon gehen würdest … Isabelle hat mir verboten, zu dir zu fahren, aber wenn du dich weiterhin nicht meldest, dann …. Ich mache mir so große Sorgen um dich … Was soll denn nun werden? «
Genau das wusste ich auch nicht. Die Zukunft erschien mir wie ein schwarzes Loch, die Gegenwart war unerträglich. Nur die Vergangenheit war ein Ort, an den ich mich flüchten konnte. Ich setzte mich neben Janas Bett in den Schaukelstuhl. Mit angezogenen Beinen überließ ich mich seinen sanft wiegenden Bewegungen und blickte in Janas vom Schlaf entspanntes Gesicht.
Als ich deinen Vater kennen lernte, war ich dreiundzwanzig und er dreißig. Das ist jetzt dreizehn Jahre her. Ich war mitten im Studium, während er gerade seinen ersten Job angetreten hatte. Damals teilte er sich noch eine Wohnung mit einem Freund –Hannes hieß er. Ich war so unsterblich in Hannes verliebt, dass ich
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