Im Antlitz des Herrn
scherten ihn die wissenschaftlichen Konventionen? Seine Professur an der Uni hatte er mehr gehasst als geliebt. Er fühlte sich geradezu befreit davon, denn für Forschung und Lehre blieb bei der ständig wachsenden Verwaltungsarbeit kaum Zeit. Nein, er trauerte all dem nicht hinterher und hatte sein Kündigungsschreiben mit großem Vergnügen verfasst. Trotzdem war er froh, jetzt für ein paar Tage außer Landes zu sein und sich nicht den unweigerlich kommenden, drängenden Bitten des Dekans, es sich noch einmal zu überlegen, stellen zu müssen.
Am meisten Sorgen bereiteten ihm Hendersons Ambitionen. Bis heute durchschaute er nicht, was den Briten antrieb. Als sie gestern den Schriftzug «Jesus, Josefs Sohn» freigelegt hatten, erschien er ihm wie ein Besessener, der seinem lange verfolgten Ziel nahe gekommen war. Andererseits konnte er nicht behaupten, selbst sachlich und ungerührt geblieben zu sein. So sehr Engel sich auch als kühl beobachtender Wissenschaftler sehen mochte ‒ wenn diese seit Kindertagen vertrauten Namen im Zusammenhang mit aufgefundenen Artefakten auftauchten, ergriff ihn eine schwer zu beschreibende Art von Beklommenheit. Als lüfte man den Schleier eines Geheimnisses, dessen Kenntnis einem nicht zustehe. Jede neue Erkenntnis über Jesus, sein Wirken, seine Familie war nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern durch den Glauben von einer Milliarde Menschen emotional aufgeladen. Er wusste aus eigener Erfahrung, was das bedeutete, denn er hatte schon einmal große Aufregung in der «christlichen Welt» erzeugt. Sein Buch «Die Heilige Familie» machte ihn in den Augen der Amtskirche zu einem Ketzer, obwohl ihm die meisten Theologen hinter vorgehaltener Hand recht gaben. Öffentlich hätten sie nie zugegeben, dass Jesus vier Brüder und eine nicht genau bekannte Anzahl Schwestern hatte, obschon sowohl im Markus- wie im Matthäus-Evangelium Jakobus, Josef, Judas und Simon als Jesu Brüder genannt werden. Kaum war sein Buch erschienen, wurde es zum Bestseller, und die offizielle Amtskirche tobte. Kein Wunder, schließlich rührte Engel an einem Dogma: der unbefleckten Empfängnis Marias. Der Glaubenssatz von der immer währenden Jungfrau schließt weitere Schwangerschaften einfach aus. Getreu dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, erschienen postwendend mehrere Artikel in theologischen und historischen Fachzeitschriften, vor allem aber in Publikumszeitungen und Magazinen, die Engel wissenschaftliche Unredlichkeit vorwarfen. Seine neuen Erkenntnisse seien ein alter Hut und lange widerlegt. Der Begriff «Bruder» hätte sich damals auch auf weitere Familienmitglieder bezogen und schließe Cousins ein. Engel hatte diese Thesen eindeutig entkräftet, trotzdem kramte man sie ungeniert hervor. Die Wucht der christlichen Medienmacht traf ihn völlig unvorbereitet. Noch jetzt, während das Flugzeug in zehntausend Metern Höhe über den Ärmelkanal flog, musste er lächeln bei dem Gedanken, dass man ihn innerhalb von zwei Wochen in vier Talkshows eingeladen hatte. Damit durften Wissenschaftler normalerweise nur rechnen, wenn sie den Nobelpreis erhielten. In jeder Sendung saß ihm ein anderer Theologe gegenüber, und immer hatte Engel am Ende das Gefühl, das Studio als Verlierer zu verlassen. Seine Argumente waren absolut stichhaltig, der Kirchenvertreter aber appellierte an die Zuschauer, sich an die bekannten Geschichten aus ihrer Kindheit zu erinnern. Einer dieser Herren im schwarzen Anzug scheute sich nicht, in die Kamera zu fragen:
«Haben Sie jemals vorher gehört, dass unser Heiland Geschwister hatte? Nein? Wie sollten Sie auch. Schließlich war unsere Gottesmutter zeit ihres Lebens unberührt.»
Fast hätte Engel laut losgelacht ob dieser Dreistigkeit. Die Idee von der Jungfräulichkeit Marias entstand erst spät, sie kommt im gesamten Neuen Testament nicht vor. Erstmals erwähnt wird sie im Jahr 374. Die Zeitgenossen Jesu konnten auf diese Idee nicht kommen, weil sie engen Kontakt zu seinen Brüdern und Schwestern hatten. In jeder dieser Fernsehsendungen versuchte Engel, seine stichhaltige Argumentationskette vorzubringen, dass man nach der Entstehung des Dogmas von der Jungfräulichkeit die Geschwister Jesu, die in den Evangelien eindeutig vorkommen, in irgendeiner Weise «wegerklären» musste. Also argumentierte man entweder, es handele sich in Wahrheit nicht um Brüder, sondern um Cousins, oder man erklärte sie zu Kindern Josefs mit einer früheren Ehefrau. Der
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