Im Antlitz des Herrn
Katastrophe. Wir hätten uns allenfalls von einigen lieb gewordenen Traditionen lösen müssen.»
Er legte den Kopf leicht zur Seite und lächelte, als würde er über einen alten Witz nachdenken.
«Es hätte sogar sein Gutes, würde es doch den lächerlichen, jahrhundertelangen Streit der verschiedenen Konfessionen um die Grabeskirche beenden.»
Der Bischof atmete erneut tief durch, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Di Lucca befürchtete, er könne in den Schockzustand zurückfallen, denn für eine Sekunde sackte Legado in seinem Sessel zusammen. Im gleichen Augenblick fing er sich jedoch und streckte sich.
«Im Grunde genommen kann der Mutter Kirche nicht viel gefährlich werden. Selbst wenn die anderen beweisen könnten, dass Maria keine Jungfrau oder der Herr sechs Kinder mit drei Frauen hatte. Eines aber bedeutet unweigerlich unser Ende ...»
Er machte eine lange Pause, als traue er sich nicht, das Furchtbare auszusprechen, aus Angst, es in die Welt zu lassen.
«Wenn das Grab des Herrn entdeckt wird und in ihm seine sterblichen Überreste – dann stürzt alles in sich zusammen.»
Di Lucca wusste nicht, was er antworten sollte. Die gleiche Furcht hatte ihn ergriffen, als er die Nachricht las. So schwiegen die beiden Männer für geraume Zeit. Es war der Bischof, der zu sprechen begann.
«Wir sollten nicht kleinmütig sein. Schließlich ist es ja gar nicht möglich, dass jemand den Leichnam des Herrn findet. Es muss sich also um ein anderes Skelett handeln.»
Di Lucca hatte die ganze Zeit auf die Tischplatte gestarrt. Als er jetzt aufschaute, war er überrascht, Legado gut erholt zu sehen. Sein Gesicht strahlte jene Zuversicht aus, die er bei ihm gewohnt war. Wenn er doch auch diesen Glauben besäße. Jetzt wischte er allerdings zunächst alle Zweifel beiseite, denn sie brachten sie nicht weiter.
«Sie haben recht, es kann nicht sein. Aber es ist möglich, dass sie es behaupten und zu beweisen versuchen. So weit sollten wir es nicht kommen lassen. Wir müssen in den Besitz der Knochen kommen.»
«Was schlagen Sie vor, John?»
«Reden Sie mit dem Kardinal. Er soll die diplomatischen Drähte nach Israel nutzen. Wahrscheinlich wissen sie dort noch gar nicht, dass Grabräuber ihnen wertvolle Gegenstände gestohlen haben. Wenn Sie es erfahren, werden sie den englischen Behörden die Hölle heißmachen, um es zurückzubekommen. Ich versuche erst einmal, herauszufinden, wo sich das Diebesgut derzeit befindet und was der verrückte Brite und sein deutscher Assistent planen.»
Der Bischof erhob sich von seinem Stuhl.
«Gut, das wäre ein Anfang.»
Als er die Tür erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um.
«Gott sei mit uns, John.»
***
Engel war überrascht, dass ihn Sarah in Heathrow erwartete. Sie hatte einen schwarzen Jeep unmittelbar am Ausgang geparkt und sämtliche Halteverbotsschilder missachtet. Als er durch die Tür ins Freie trat, sah er sie in einer lebhaften Debatte mit einem Mitarbeiter der Flughafensicherheit.
«Gut, dass Sie kommen, Mr. Engel. Lange hätte ich diesen freundlichen Gentleman nicht mehr davon abhalten können, den Abschleppdienst zu rufen.»
Kaum hatte er die Tür geschlossen, steuerte Sarah den Wagen auf die Ausfahrtstraße. Gegenüber ihrem ersten Treffen war sie jetzt fast konservativ gekleidet. Der Hosenanzug aus naturfarbenem Leinen stand ihr allerdings nicht schlechter als die legere Rangerkleidung.
«Hallo Sarah, schön, Sie zu sehen.»
«Ich freue mich auch, Mr. Engel.»
«Wolfram, bitte. Trotzdem würde ich gerne Ihren Nachnahmen erfahren.»
Sarah drehte sich zu Engel um und lachte.
«Entschuldigen Sie, aber es war alles etwas hektisch in Jerusalem. Sarah Goldberg.»
Sie sprach den Namen amerikanisch aus.
«Und ich hätte gewettet, Sie sind Amerikanerin arabischer Abstammung», sagte Engel, während er den Sicherheitsgurt anlegte.
«Stimmt nicht ganz, aber halb. Meine Vorfahren kamen aus Deutschland. Allerdings liegt die Emigration viel weiter zurück, als die meisten Menschen vermuten. Mein Urgroßvater kam 1887 mit dem Dampfschiff in New York an. Seitdem lebt meine Familie in Brooklyn. Für mein arabisches Aussehen sorgte mein Großvater, der Schuft.»
Sie lachte und fuhr fort:
«Er verliebte sich in eine Bauchtänzerin in einem Nachtclub. Immerhin war er so anständig, sie zu heiraten, als sie mit meinem Vater schwanger war. Kennen Sie Brooklyn, Wolfram?»
«Nein, eigentlich nicht. Ich war ein paarmal in New York auf
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