Im Antlitz des Herrn
machte. Er war der Ehemann von Carlotta, mit der er einen kleinen Gemüseladen in St. Georg betrieb. Angela und Wolfram waren in der Anfangszeit ihrer Beziehung dort Stammkunden, weil sie zu faul waren, in den Supermarkt zu gehen. Sie wollten ihre gemeinsame Zeit nicht mit Einkaufen vertrödeln. Frederico und Carlotta waren dreißig Jahre verheiratet. Sie machten einen harmonischen, glücklichen Eindruck, Tag für Tag standen sie gemeinsam im Laden, niemals hörte man sie streiten. Eines Tages war Carlotta allein. Als Angela nach Frederico fragte, bekam sie eine einsilbige Antwort. Nach einer Woche war er wieder da, und alles war wie immer. Dieses Verschwinden wiederholte sich etwa alle drei bis vier Monate. Eines Abends, Angela war bei einer Freundin, lud Wolfram Frederico auf ein Glas Wein ein. Aus einem Glas wurden zwei, aus zwei eine Flasche, der noch eine zweite folgte. Derart beflügelt, erzählte Frederico von seinen kleinen Fluchten. Alle paar Monate führe er für ein paar Tage an einen Ort, an dem er noch nie war. Er bräuchte diese Abwechslung, um den gleichförmigen Alltag zu überstehen.
«Nein, nein», wehrte er entschieden ab, als Thomas ihm unterstellte, er besuche sicher eine Freundin.
«Ich bin meiner Carlotta niemals untreu gewesen, und das weiß sie auch. Vielleicht würde ich es, wenn ich dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr hier wäre.»
Wolfram fragte ihn nach dem Ziel seiner Reisen.
«Mal hierhin und mal dorthin», bekam er zur Antwort. «Auf jeden Fall an einen Ort, den ich nicht kenne und wo mich niemand vermutet.»
Wolfram erzählte Angela diese Geschichte am gleichen Abend. Sie amüsierten sich darüber, sahen aber auch die Weisheit in Fredericos Verhalten. Schließlich tut es jedem Menschen gut, an unbekannte Orte zu fahren.
«Wir sollten auch regelmäßig den Italiener machen», hatte Angela damals lachend gesagt, und seit diesem Abend gehörten diese Worte zu ihrem Partnerjargon, den nur sie miteinander teilten.
Angela zog sich den Bademantel über, ging zum Telefon und wählte Julias Nummer. Sie war seit der Grundschule Hannahs beste Freundin.
«Zimmermann», meldete sich ihre Mutter.
«Guten Tag, Frau Zimmermann, hier ist Angela Engel. Kann ich bitte meine Tochter Hannah sprechen?»
Es blieb still in der Leitung, und Angela presste den Hörer fester ans Ohr, als müsste sie noch ein Flüstern verstehen. Deshalb erschrak sie fast, als die Frau am anderen Ende nach zwei Sekunden antwortete.
«Aber Frau Engel, Hannah ist nicht hier. Sie hat am Nachmittag eine SMS geschickt. Sie seien krank, und da bliebe sie lieber zu Hause. Wir fanden es toll, dass ein so großes Mädchen bei seiner kranken Mutter bleiben will. Geht es Ihnen besser?»
«Ja, ja», stammelte Angela. «Entschuldigen Sie die späte Störung.»
Ganz langsam legte sie das Telefon auf die Station. Mit beiden Händen griff sie den Kragen des Bademantels und presste den flauschigen Stoff zusammen. Wolfram hatte recht. Es war verdammt ernst.
Elf Tage vor der Auferstehung
Thomas Engel fror, als er um fünf vor neun vor der Pension Engelshaus aus dem Taxi stieg. Angela hatte ihn gestern Abend aufgelöst angerufen. Hannah war verschwunden. Außerdem habe Wolfram ihr mitgeteilt, sie sei in Gefahr. Er hatte den ersten Zug nach Hamburg genommen. Sein Kaplan musste heute alleine mit den zwei Beerdigungen fertig werden und ihn auch in der Schule vertreten.
Er streckte gerade die Hand zur Klingel aus, als Angela bereits die Tür öffnete. Sie sah übernächtigt aus. Ihre Haare hatte sie nachlässig zu einem ungeordneten Knoten hochgesteckt. Ihr Gesicht war ungeschminkt bis auf etwas Lippenstift. Als sie Thomas sah, schluchzte sie kurz auf und warf sich in seine Arme.
«Endlich bist du da.»
«Irgendetwas Neues?»
Sie löste sich von seiner Schulter, sah ihn traurig an und schüttelte mit sparsamen Bewegungen den Kopf. Anschließend zog sie ihn in die Wohnung und nahm ihm den schweren Lodenmantel ab.
«Magst du einen Tee?»
«Gerne. Und dabei erzählst du mir der Reihe nach, was passiert ist.»
Auf dem Weg in die Küche nahm Angela das Handy aus ihrer Hosentasche, drückte ein paar Tasten und reichte es Thomas. «Hier, lies selbst.»
Thomas überflog den kurzen Text.
«Was soll das heißen?»
Angela erzählte ihm in aller Kürze von Frederico und Carlotta und was es bedeutete, den Italiener zu machen . Dabei füllte sie einen Liter Wasser in den Kessel, stellte die Aufbrühkanne auf die kleine Waage, und
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