Im Antlitz des Herrn
gab exakt zwölf Gramm des edlen und dementsprechend teuren Oolong aus Taiwan hinein. Ihre Bewegungen waren fließend und selbstverständlich. Die Zubereitung feinster Tees war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Selbst jetzt, wo die Angst um ihre Tochter ihre Gedanken beherrschte, hantierte sie ruhig mit allen Gerätschaften. Am Anfang hatte Thomas diese Zeremonie, das exakte Abmessen des Wassers und das Abwiegen der Teeblätter, für einen Spleen gehalten. Er benutzte Teebeutel, die er im Supermarkt kaufte. Allerdings musste er bald zugegeben, dass Angelas Tees aus einer anderen Welt des Geschmacks kamen. Sie dufteten herrlich blumig und füllten den ganzen Mund mit einer Vielzahl von Aromen. Nach und nach lernte er die Vielfalt der Tees kennen und schätzen, ohne seine Gewohnheiten zu Hause zu ändern. Angela zog ihn regelmäßig damit auf.
«Wie kannst du dieses grässliche, gefärbte Wasser trinken? Teebeutel haben mit Tee genauso viel zu tun wie Windbeutel mit Wind, mein Lieber!»
Thomas verdrängte diese heiteren Gedanken und fragte:
«Hast du Hannahs Freundin gefragt, wann sie ihr die SMS geschickt hat?»
«Nein, gestern Abend nicht. Da war ich viel zu schockiert. Aber die Polizei war heute Morgen bei Julias Mutter und hat sich die Nachricht auf dem Handy angesehen. Sie kam um dreizehn Uhr sechsundzwanzig. Absender unbekannt.»
Das Wasser kochte. Angela stellte den Teatimer auf eineinhalb Minuten ‒ exakt die Zeit, die dieser feine, halbfermentierte Formosa-Oolong brauchten, um sein leicht nussiges Aroma zu entfalten. Das noch sprudelnde Wasser ließ die Aufbrühkanne sofort beschlagen.
«Und du bist sicher, dass Hannah nicht bei einem Freund übernachten wollte und Julia als Alibi benutzt hat?»
Angela schüttelte energisch den Kopf.
«Du kennst Hannah. Sie ist eine Wahrheitsfanatikerin. Außerdem sprechen wir über ihre Verabredungen mit Jungs. Sie braucht mir nichts zu verheimlichen, weil sie weiß, dass ich ihr genauso vertraue wie sie mir.»
Viele Mütter reden sich ein solches Verhältnis zu ihrer Tochter ein, dachte Thomas.
«Ich weiß, dass ihr euch versteht, aber trotzdem. Vielleicht ist ihr Freund älter oder verheiratet oder was weiß ich, und sie traut sich nicht, darüber zu sprechen. Sie ist in einem schwierigen Alter.»
«Aber dann wäre sie doch heute Morgen ganz normal in der Schule erschienen. Fünf Minuten, bevor du kamst, rief mich der Kommissar an. Dort ist sie nicht, Thomas. Sie ist entführt worden, ich weiß es!»
Der Teatimer klingelte und lenkte Hannah von ihrer Verzweiflung ab. Sie goss den Tee durch ein Sieb aus der Brühkanne in eine schöne, antike Silberkanne mit schwarzem Ebenholzgriff. Das Sieb schüttelte sie über dem Mülleimer aus und stellte es in die Spüle.
«Nimmst du die Tassen?»
Sie zeigte auf den Hängeschrank links von Thomas. Er stand voller Geschirr, und er hoffte, dass die zwei hauchdünnen chinesischen Teetassen die richtigen wären.
Als er das Wohnzimmer betrat, hatte sich Angela bereits auf das Kanapee gesetzt und die Beine angezogen. Sie wirkte viel kleiner und verletzlicher. Thomas goss Tee in beide Tassen, nahm eine in die Hand und reichte sie ihr. Während er sich in den bequemen Lesesessel setzte, trank Angela einen Schluck und legte den Kopf zurück auf das Kissen. Sie blickte an die Decke, als suche sie dort die Lösung für das Problem.
«Hannahs Entführung hängt bestimmt mit Wolframs Arbeit zusammen. Sie müssen Sensationelles entdeckt haben, und irgendjemand will verhindern, dass es an die Öffentlichkeit kommt. Wolfram hat gewusst, dass wir in Gefahr sind. Er wollte mich warnen. Leider zu spät.»
Thomas war diese Idee auch schon gekommen. In diesem Fall gäbe es im Grunde nur einen Verdächtigen für Hannahs Entführung. Sollte er den Bischof anrufen? Oder lieber gleich diesen Mister di Lucca? Andererseits konnte er ja schlecht direkt fragen, ob sie Hannah Engel entführt haben.
Die kleine Pendeluhr in der Küche schlug an. Genau in dem Moment, als der zehnte Schlag ertönte, klingelte das Telefon. Angela zuckte vor Schreck zusammen, sprang auf und hastete in den Flur.
«Ja, Engel», rief sie in den Apparat.
«Gute Nachrichten, Frau Engel.»
Kommissar Boysens Stimme klang ruhig und entspannt.
«Wir haben Hannah gefunden.»
«Wo ist sie?», fragte Angela atemlos.
«Im Eppendorfer Krankenhaus. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Es geht ihr gut.»
«Ich komme sofort!»
Angela
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