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Im Antlitz des Herrn

Im Antlitz des Herrn

Titel: Im Antlitz des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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Gott nicht wirklich tot sein, sonst wäre er ja kein Gott. Also erfand Paulus den Auferstandenen. Das war eine herausragende Idee. Moderne Marketingstrategen würden von einer Alleinstellung sprechen, die man braucht, um eine erfolgreiche Kampagne zu starten. Und wie erfolgreich Paulus war!»
    Henderson hatte sich in Rage geredet, beruhigte sich aber von einer Sekunde auf die andere und fuhr sachlich fort:
    «Letztendlich ist alles ganz einfach, Engel. Der ganze christliche Glaube basiert auf einem einfachen Bluff, den sich ein gewisser Saulus aus der kleinasiatischen Stadt Tarsos ausgedacht hat. Dieser Mann erkannte das Potenzial in den Ideen von ein paar Idealisten, die sich um einen von den Römern wegen Aufruhr und des Verdachts auf Hochverrat Hingerichteten gescharrt hatten. Saulus hatte diesen Jesus zwar nie kennengelernt, nie ein Wort mit ihm gewechselt, und die Jünger wollte nichts mit ihm zu tun haben. Weil er aber im Gegensatz zu ihnen gebildet war, schaffte er es in kurzer Zeit, seine Ideen in vielen Städten des römischen Riesenreichs zu verbreiten, während die ursprüngliche Jesus-Bewegung in Jerusalem mehr und mehr verkümmerte.»
    Engel hatte schweigend zugehört. Hendersons Argumentation vereinfachte zwar komplexe Zusammenhänge, in den Grundzügen entsprach sie aber den Ansichten der unabhängigen historischen Forschung über das frühe Christentum. Natürlich hätte sein Bruder jetzt eine theologische Debatte über die Begrenzung menschlicher Erkenntnisfähigkeit im Angesicht des Göttlichen entfacht. Aber waren das nicht nur Nebelkerzen, um den klaren Blick auf die historische Wahrheit zu verhindern? Als hätte Henderson seine Gedanken erahnt, fuhr er fort:
    «Zweitausend Jahre christlich-abendländische Tradition basieren auf einer einfachen Lüge, und all die theologischen Doktrinen und Debatten sollen das verschleiern. Die Wissenschaft hat nur eine Aufgabe, Engel. Sie muss die Menschen befreien, indem sie diese Lüge entlarvt.»
    Damals hatte Engel dieses Sendungsbewusstsein als harmlose Spinnerei abgetan. Jetzt war er Teil einer Operation, mit der Henderson sein Ziel erreichen wollte. Bisher hatte Engel die Arbeit als spannende wissenschaftliche Herausforderung mit offenem Ausgang gesehen. Was aber, wenn für Henderson das Ergebnis längst feststand? Hatte er eine ausgefeilte Strategie in der Schublade, wie er den Fund publizieren wollte? Brauchte er das Team als wissenschaftliches Feigenblatt? Und wenn ihre Ergebnisse seine Hypothese widerlegten? Wie ein Blitz durchzuckte Engel die Erkenntnis, dass Henderson ein negatives Ergebnis nicht akzeptieren würde. Aber er konnte sie nicht ewig eingesperrt lassen, und den Maulkorb, den er ihnen vertraglich verpasst hatte, würden er und seine Kollegen spätestens ablegen, wenn Henderson nicht belegte Vermutungen als Tatsachen verkaufte.
    Engel fröstelte. Er stand auf und korrigierte die Temperatur am Thermostat der Klimaanlage zwei Grad nach oben. Wie weit war Henderson bereit zu gehen, um seine Mission zu erfüllen? War das Team nur ein Werkzeug, das man wegwarf, wenn es sich als nutzlos erwies?
    Engel versuchte, sich zu beruhigen. Die Gruppe bestand aus den angesehensten Spezialisten ihrer jeweiligen Fachrichtung. Jeder von ihnen hatte Freunde oder Bekannte, denen er vom Engagement durch die HAF erzählt hatte. Jeder von ihnen hatte sich bei seinem Arbeitgeber abmelden müssen. Engel hatte sogar gleich ganz gekündigt. Und er hatte Angela und Thomas vom Grabfund erzählt. Er durfte sich nicht verrückt machen lassen. Ein Whisky würde ihm jetzt guttun. Er ging zur Bar und goss sich ein großzügiges Glas ein. Wahrscheinlich hatte Henderson recht, und die weit größere Bedrohung ging vom Vatikan aus. Bereits die Tatsache, dass die Inschriften auf den Ossuarien echt waren, musste für die Amtskirche eine Herausforderung darstellen. Wenn die Öffentlichkeit davon erfuhr, würden die Spekulationen ins Kraut schießen. Einen derartig brisanten Fund hatte es bisher nicht gegeben. Er war eindeutig die größte Gefahr, der sich der Vatikan jemals gegenübergesehen hatte. Engel trank einen großen Schluck und konzentrierte sich auf die Geschmacksexplosion in seinem Mund.
    Vor der Macht Roms sollte man sich mehr fürchten als vor einem reichen, spleenigen Engländer, dachte er und nahm am Schreibtisch Platz. So lange er hier eingesperrt war, konnte er Angela und Hannah nicht schützen. Am besten verschwanden sie von der Bildfläche. Engel rieb sich mit

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