Im Auftrag der Liebe
hatte in Quincy in einem IHOP gekellnert und sich mit Elena Hart eine Wohnung in East Weymouth geteilt. Kurz bevor sie zum letzten Mal gesehen worden war, hatte man ihr im Restaurant gekündigt.
Sie war bei ihren Großeltern aufgewachsen. Der Großvater war vor mehr als zehn Jahren gestorben, und ihre Großmutter lebte inzwischen in einer Wohnanlage für Senioren in South Weymouth. Außer der gab es keine lebenden Verwandten.
Rachel war vorbestraft – wegen Ladendiebstahls (zweimal), dem Ausstellen ungedeckter Schecks und tätlichem Angriff nach einem Streit in einer Kneipe. Mit einer Büroklammer war ein Foto an der Mappe befestigt.
»Es ist das beste Bild, das ich finden konnte. Da war sie in ihrem letzten Jahr an der Weymouth High.«
Sean hatte die Farbfotografie der jungen Frau aus dem Jahrbuch wohl vergrößert. Das Bild war körnig, die Pixel verzerrt, aber man konnte dennoch problemlos erkennen, wie schön Rachel gewesen war – trotz des fetten Lidstrichs und der Stachelfrisur.
»Was ist denn mit ihren Eltern passiert?«
»Keine Ahnung.«
»Diese Augen …«
»Ich weiß.«
Schwer zu sagen, welche Farbe sie hatten. Vielleicht dunkelblau. Oder braun. Aber nicht ihre Farbe erregte meine Aufmerksamkeit, sondern die Traurigkeit, die darin lag. Eine tiefe, dunkle Traurigkeit.
»Ich habe mich mit der Schule in Verbindung gesetzt und mit ihrer alten Vertrauenslehrerin gesprochen. Sie hat mir Rachel als intelligent und wortgewandt beschrieben, aber auch als sehr sensibel. Sie hatte kaum Selbstvertrauen und keine Freunde außer Elena Hart. An Elena erinnert sich die Dame nur sehr ungern zurück, und das ist noch untertrieben. Elena schwänzte die Schule, hatte ein loses Mundwerk und machte nie irgendwelche Hausaufgaben. Sie hat Rachel zu sich runtergezogen, und die Vertrauenslehrerin konnte nichts dagegen tun. Rachel wünschte sich so verzweifelt eine Freundin, dass es ihr egal war, wenn diese Freundin sie in Schwierigkeiten brachte. Da war nichts zu machen.«
»Was ist mit Rachels Großmutter?«
Auf der anderen Straßenseite ging im Wohnzimmer das Licht an. Nichts verdeckte uns die Sicht – an den Fenstern gab es keine Vorhänge oder Rollos. J-Rod trug eine Leiter.
Sean schoss ein paar Fotos. »Als ich die Lehrerin danach fragte, wollte sie nicht so recht mit der Sprache herausrücken, aber ich hatte den Eindruck, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmt.«
»Wir müssen mit Rachels Großmutter sprechen, mit Arbeitskollegen oder irgendwelchen möglichen Freunden«, sagte ich.
»Wir?«, lächelte Sean.
»Ich meine, äh, ja.«
Er lachte. »Okay. Man kann nicht so genau sagen, wann exakt Rachel verschwunden ist. Die Polizei hat herausgefunden, dass sie Ende Oktober noch eine Schicht im IHOP übernommen hat. Das war ein paar Monate bevor sie schließlich jemand als vermisst gemeldet hat.«
»Hatte sie denn keinen Vermieter?«
»Doch, aber die Miete wurde automatisch von ihrem Konto abgebucht. Erst nach der Vermisstenanzeige wurde festgestellt, dass die Wohnung leerstand.«
»Sie stand leer? Was war denn mit Elena?« Wo hatte ihre beste Freundin gesteckt? Warum hatte sie keine Vermisstenmeldung aufgegeben?
»Sie heißt inzwischen Elena Delancey.« Sean deutete auf die Mappe auf meinem Schoß. Ich schlug sie auf.
Elena Hart war in Weymouth aufgewachsen und hatte so gerade eben ihren Abschluss geschafft. Ihr Vorstrafenregister war ellenlang. Betrug, unerlaubtes Betreten, Diebstahl, tätlicher Angriff, Vandalismus. Und so ging es immer weiter. Außerdem hatte sie in demselben IHOP gearbeitet wie Rachel und war am selben Tag entlassen worden.
»Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als man Rachel als vermisst meldete, hat sie Massachusetts verlassen«, erklärte Sean.
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Sie ist geflüchtet?«
»Vielleicht«, meinte er. »Aber jetzt kommt das Beste. Sie ist nach Rhode Island gezogen und aufs College gegangen. Dann fing sie an, als Sozialarbeiterin in einer wohltätigen Einrichtung für Kinder zu arbeiten, hat geheiratet und ist jetzt selbst Mutter.«
»Du machst Witze.«
»Nein. Sie hat ihr Leben völlig umgekrempelt. Seitdem hat sie nicht einmal mehr ein Knöllchen bekommen.«
»Woher der drastische Sinneswandel?«, fragte ich. Thoreau regte sich. Ich streichelte ihn, und er gähnte, streckte sich, leckte meine Hand und schlief wieder ein.
»Wenn ich raten sollte – ein schlechtes Gewissen.«
»Sie tut Buße? Wofür denn? Für den Mord an Rachel?«
»Das würde doch passen,
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