Im Auftrag der Rache
diejenigen Schiffe, die noch vor Anker lagen und auf deren Decks sich kaum etwas regte. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Chaos, das noch am Ufer herrschte. Die Gefühlswogen schlugen hoch; etliche Kapitäne und Mannschaften stritten mit den Hafenmeistern und versuchten so viele Vorräte wie möglich für sich zu bekommen.
Wenn es so weiterging, dachte Asch, würden die meisten Schiffe erst in der Abenddämmerung ablegen. Er lehnte sich zurück und zog sich die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und schloss die Augen.
Ohne Eile wich der Herbstnachmittag dem herannahenden Zwielicht.
*
Es gab eine Geschichte über den Großen Narren, jenen Honschu-Weisen des Dao, der alle Dogmen verworfen hatte und dennoch nach seinem Tod selbst zu einer Religion geworden war. Jeder R o ¯ schun-Lehrling erfuhr diese Geschichte während seiner Ausbildung.
Während eines Spaziergangs in den Bergen nahe bei der Quelle des Duftenden Flusses hatte die jüngste Anhängerin des Großen Narren, die gebrandmarkte Frau Miri, ihn gefragt: Wie bleibt man ruhig, großer Meister?
Zur Antwort hatte der Große Narr einen Stecken in das dahinströmende Wasser geworfen und seine Anhänger gebeten, ihn zu beobachten.
Aber ich bin kein Holzstecken , hatte Miri enttäuscht erwidert. Wie könnte ich auf so natürliche Weise mit dem Strom schwimmen?
Der Große Narr hatte sie sanft an der Stirn berührt.
Indem du deinem Geist erlaubst, still zu sein .
Das war ein Paradox, das Asch sehr beeindruckt hatte, als er es in seiner Ausbildung zum R o ¯ schun zum ersten Mal gehört hatte, denn damals hatte er unbedingt eines Beschützers bedurft.
Er war von seinen Kameraden verstoßen worden, hatte seine Familie verloren und keine Hoffnung gehabt, je wieder nach Hause zurückkehren zu können, und so hatte er unbedingt etwas gebraucht, das die Leere in seinem Herzen ausfüllte und die Gedanken in seinem Kopf besänftigte, die ihm zuflüsterten, er solle seinem Leben ein Ende setzen, da es keinen Wert mehr habe. Deshalb hatte er sich die Stille der R o ¯ schun zu eigen gemacht, und sie hatte ihn gerettet.
Es gab noch eine andere Geschichte, die der Große Narr seinen Anhängern erzählt hatte und an die sich Asch von Zeit zu Zeit ebenfalls erinnerte.
Ein Wahnsinniger wird in einem Käfig gefangen gehalten und hat einen geblendeten Tiger zur Gesellschaft.
Seit sich der Wahnsinnige zurückerinnern kann, geht er von einer Seite des Käfigs zur anderen und umkreist den Tiger, so wie dieser ihn umkreist und vor Hunger knurrt. So lange er zurückdenken kann, ist er den Angriffen des blinden Tieres ausgewichen oder hat still in einer Ecke gestanden und dem langsamen Gang des Tigers an den Gitterstäben vorbei zugesehen. Nie steht das Tier still, denn sein Verlangen ist mächtig.
Eines Tages stellt der Wahnsinnige fest, dass er so nicht mehr weiterleben kann. Er geht nicht mehr umher. Er wendet dem Tiger den Rücken zu. Er setzt sich und wartet auf seinen Tod.
Er schläft ein, oder zumindest nimmt er das an, denn als er die Augen wieder aufschlägt, ist alles anders geworden.
Die Tür des Käfigs steht offen. Endlich ist die Freiheit für ihn erreichbar.
Der Wahnsinnige tritt nach draußen. Er sieht, wie alles eins ist an diesem Ort des verzehrenden Lichts. Er sieht, dass die Gitterstäbe seinen Blick in schmale senkrechte Streifen eingeteilt hatten. Er sieht den Tiger an, der noch immer im Käfig umherschreitet. Er begreift, dass er dem Tier einen Namen und eine Identität verliehen hat und es eine Geschichte der langen Zeit gibt, die sie miteinander verbracht haben. Er sieht, wie unreif und klein und gleichzeitig wie stark und edel der Tiger in Wirklichkeit ist.
Der Mann tritt zurück in den Käfig zu seinem ernsten Gefährten. Das Tier will ihn noch immer verschlingen, denn es fürchtet um sein Überleben.
Doch es tut ihm nichts an, denn hier ist er der Herr.
Er ist gesund.
Genauso wie in dieser Geschichte war sich Asch seiner selbst nicht mehr sicher. Er wusste nicht mehr, ob er geschickt und mit einem klaren und von allem losgelösten Ziel im Dao schwamm. Vielleicht hatte er in seinem Kummer den rechten Weg verloren.
Aber wie sollte er es wissen? Wie konnte er je den richtigen Weg vom falschen unterscheiden, wenn ihm inzwischen alles unklar und dunkel erschien?
Atme tief durch und gehe weiter, hätten die Chan-Mönche des Dao gesagt. Also saugte Asch die kühle Nachtluft tief in die Lunge und
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