Im Auftrag der Väter
ihm irgendwann irgendjemand irgendwas weggenommen hat?«
»Möglich«, sagte Louise. »Apropos ...«
»Ein Psychopath ... Himmel«, sagte Henriette Niemann.
»Apropos Haus.« Louise fragte Paul Niemann, ob der Mann »Das ist mein Haus« oder »Das ist
nun
mein Haus« gesagt habe. Er erwiderte, beides, einmal so, einmal so.
Sie seufzte. Was bedeutete das nun wieder?
»Wenn das nicht nach Psychopath klingt«, sagte Henriette Niemann.
Louise schwieg. Ihr Blick begegnete dem von Paul Niemann. Seine Augen waren wässrig und gerötet und noch immer unruhig. Sie wusste, dass er endlich loswollte, zurück nach Landwasser, diesmal, um in den Kirchen zu suchen, in den Pfarrämtern zu fragen. Ein Russlanddeutscher, der gebrochen Deutsch spricht und einen Psalm zitiert ...
Kommen Sie da raus, dachte sie. Sie müssen da
raus.
Aber sie schwieg.
»Die Feinde eines Psychopathen, na, ich danke herzlich«, sagte Henriette Niemann und erhob sich abrupt. Louise
hörte sie hinter sich an einem Schrank hantieren. Gläser klirrten.
Sie wusste, was nun geschehen würde.
Kälte kroch ihren Nacken hoch. Alltag einer Säuferin.
»Ich brauch jetzt was zu trinken«, sagte Henriette Niemann, »trinken Sie ein Gläschen mit?«
»Ach, nein«, sagte Louise. »Jetzt grad nicht.«
Dann begann das Rätselraten: Ein Mann, der sprach wie die Russlanddeutschen, Paul Niemann, der vor vier Jahren im Bürgerservice ein paar Monate lang mit Russlanddeutschen zu tun gehabt hatte. War es möglich, dass sie einander kannten?
Paul Niemann hielt das für ausgeschlossen. Er würde sich erinnern, sagte er, selbst nach so langer Zeit. Er erinnerte sich ja auch an andere Spätaussiedler, die bei ihm gewesen waren. Manchmal waren ganze Familien gekommen, manchmal Freunde dazu, die übersetzt und geholfen hatten. Schicksale, die man nicht so leicht vergisst, Situationen, die man nicht vergisst. Er hatte sie traurig, wütend, fassungslos gesehen, weil Ausbildungen, Diplome, ganze Berufsleben nicht anerkannt worden waren. Er hatte mit ihnen gelacht, weil ihre Führerscheine nicht anerkannt worden waren. Weil Lkw-Fahrer, die jahrelang durch Sibirien gefahren waren, in Deutschland Fahrstunden hatten nehmen müssen. Er hatte mit ihnen gestritten, weil er an all dem nichts hatte ändern können.
Nein, er würde sich erinnern.
»Und wenn es noch länger zurückliegt? Wenn Sie ihm in München begegnet sind?«
»In München hatte ich nicht mit Spätaussiedlern zu tun.«
»Erst in Freiburg.«
»Ja.«
»Vier Jahre, Herr Niemann. Da vergisst man schon mal einen Menschen.«
»Nein, das halte ich für ... für ausgeschlossen.«
»Vielleicht einer, mit dem es leichter war? Der kein schweres Schicksal hatte und nicht mit seiner Familie kam?«
Er schüttelte den Kopf. Es waren, sagte er mit seiner leisen Stimme, ja nicht Tausende, es waren vielleicht achtzig oder hundert gewesen, dann war er innerhalb des Bürgerservice gewechselt. Er erinnerte sich an viele von diesen achtzig oder hundert, sah sie noch vor sich, alte Männer mit Schiebermützen und zerknitterten Gesichtern, alte Frauen mit bunten Kopftüchern und gehäkelten Jacken, die Jugendlichen mit dieser dunklen, glänzenden Sportkleidung, Sie wissen schon, Adidas-Imitaten mit drei weißen Streifen, er sah sie vor sich, als wäre es gestern gewesen. Sie hatten ihm leid getan, sie hatten geglaubt, sie wären in eine Art Ur-Heimat gekommen, dabei waren sie für die meisten Einheimischen Ausländer gewesen, aber nicht mal EU -Ausländer, nein, sie waren »die Russen« gewesen, die deutschen Russen, Überreste einer deutschen Vergangenheit, die nicht mehr zum deutschen Alltag gepasst hatte ...
Paul Niemann nahm die Brille ab, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen, als hätte ihn die lange Rede ermüdet, setzte die Brille wieder auf. Nein, sagte er, wenn der Mann im Bürgerservice vor ihm gesessen hätte, würde er sich an ihn erinnern.
Louise nickte. Paul Niemann und die Russen. Ob Henriette Niemann bewusst war, wessen Geschichte er da gerade erzählt hatte?
Kurz darauf lärmten Steinle und Lubowitz die Treppe hinunter, hämmerten an die Tür, riefen im Raucherstimmenchor »Bonì!«. Sie folgte ihnen nach draußen in die klamme Feuchtigkeit. Paul Niemann und die Russen, so unterschiedliche Schicksale, und dann begegneten sie sich in einem Amt in Freiburg und hatten für ein paar Minuten etwas gemeinsam: eine neue Heimat, in der sie sich nicht zu Hause fühlten.
Sie trat neben den
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