Im Auftrag der Väter
kleinen Germain aus Kehl, kein Anruf von Jenny Böhm. Richard Landen sagte, er sei am Mittwoch
wieder da. Ihr Bruder sagte, er wolle sie am Wochenende besuchen. Louise sagte, keine Zeit, Leute.
Ihr Blick fiel auf den Couchtisch, auf dem in einer Bierflasche eine Rose stand. So wünschten Oberschlesier, die aus unerfindlichen Gründen ein schlechtes Gewissen hatten, »Willkommen«.
Erst als sie den rötlichen Feinstaub bemerkte, der jede Horizontale in ihrem Wohnzimmer bedeckte, verstand sie das schlechte Gewissen.
Da war’s vorbei mit der neuen Gelassenheit.
6
DIE BESPRECHUNG BEGANN UM ACHT und endete um acht, zumindest was Louise betraf. Wer die halbe Nacht Feinstaub gewischt hatte und über vierzig war, der hatte um acht Uhr morgens, fand sie, ein Recht auf Besinnungslosigkeit. Sie wedelte mit der Hand, Alfons Hoffmann übernahm. Mit halbgeschlossenen Augen und dröhnendem Schädel verfolgte sie das Gespräch, hörte unverständliche Wörter in ihrem Hirn widerhallen, stand ab und an auf und spuckte Staub ins Waschbecken. Als es aus Alfons Hoffmanns Richtung verlockend knisterte, murmelte sie: »Lässt du mich mal beißen?«, und bekam eine zusammengeknüllte Zeitungsseite in die Hand gedrückt, die sie minutenlang hin- und herwendete, bis sie begriff, dass aus der Zeitungsseite im Leben kein Schokocroissant mehr werden würde. Irgendwann sagte Alfons Hoffmann freundlich: »Das Taxi wartet«, und führte sie zum Fahrstuhl.
Kurz darauf sank sie in den Fond eines Golfs, um sich von einer Beamtin vom Revier Süd, die zufällig nach Lahr fuhr, mitnehmen zu lassen. Noch in der Heinrich-von-Stephan-Straße schlief sie ein. Sie träumte von dem schmalen Grat, auf dem sie zu Hause war, und der Grat war eine blaue Autobahn und verlief zwischen den Vogesen links und dem Schwarzwald rechts. Im Traum winkte links die französische Familie, rechts die deutsche. Ist Germain wieder bei
Tante Natalie?, fragte eine Stimme, und eine andere Stimme sagte: Ja,
ma chère,
er ist bei Tante Natalie in Oberschlesien. »Quatsch«, sagte Louise und schlug die Augen auf. Sie standen an einer Raststätte, die Kollegin tankte, die Sonne schien, zum ersten Mal seit einer langen grauen Woche. Sie stieg aus. Der Verkaufsraum war eiskalt klimatisiert, an der Kasse lagen die Nachfahren jener Mon Chéries, die sie vor eineinhalb Jahren in Versuchung geführt hatten. Diesmal interessierten sie nur Kaugummis, zwei Schokocroissants und zwei Becher Kaffee zum Mitnehmen. Die Kollegin errötete, ganz offensichtlich vor Freude darüber, dass KHK ’in Bonì unaufgefordert an sie gedacht hatte. Die letzten Kilometer bis Lahr erwog Louise bei Kaffee und Croissant zufrieden, ob sie möglicherweise innerhalb von eineinhalb Jahren vom Sorgenkind des Dezernates 11 zur Legende der Kripo Freiburg geworden war.
Das Lahrer Polizeirevier war ein »Endrevier« – wer einmal hergekommen war, blieb in der Regel bis zur Pensionierung. Arndt Schneider, Leiter des Reviers, Ende dreißig, war vor acht Jahren gekommen, doch nach seinem Büro zu urteilen, musste man davon ausgehen, dass er Lahr am nächsten Tag verlassen würde: ein kahler, kalter Raum, so leer, wie ein Polizistenbüro nur leer sein konnte. Ein Schreibtisch, ein PC , zwei Stühle, ein geschlossener Metallschrank.
»Ein Minimalist«, sagte Louise.
Arndt Schneider lächelte.
Sein Lächeln gefiel ihr. Es war sehr freundlich, sehr offen, und während es langsam abklang, war es für einen flüchtigen Moment sehr traurig. Auch seine Augen gefielen ihr, warme hellgraue Augen, die ruhig auf ihr lagen und
nicht in ihrem Gesicht herumsprangen wie die Augen so vieler anderer Menschen.
»Wir kennen uns«, sagte er.
Sie nickte. Das Gesicht und die Augen kamen ihr tatsächlich vage bekannt vor. »Irgendein Einsatz?«
»Nein, glaube ich nicht. Eher von früher.«
»Von früher! Hoffentlich nichts Des..., Dis...«
»Diskreditierendes? Desavouierendes?«
Sie wedelte mit der Hand – nimm, was dir besser gefällt.
Er lächelte wieder. »Ehrlich gesagt weiß ich das nicht mehr.«
»Haben wir dabei ›Du‹ oder ›Sie‹ gesagt?«
»Tja ...« Er zuckte, offensichtlich ratlos, die Achseln.
»Muss ja lange her sein.«
»Es fühlt sich nach Bepo-Zeiten an.«
»Die legendären Bepo-Partys ...« Sie grinste. »War leider nach meiner Zeit.«
»Du bist vor siebenundachtzig gekommen?«
Sie nickte, zweiundachtzig, nach der obligatorischen Asienreise und den obligatorischen Wo-soll-ich-hin?-Semestern
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