Im Auftrag der Väter
entfernte.
»Möchtest du’s hören, Louise?«, fragte Friedrich.
Sie setzte sich auf das Mäuerchen. »Was?«
»Wie der kleine Junge von Arndt gestorben ist.«
»Wie der ...«
Sie blickte in die geröteten, teilnahmslosen Augen. Nein, dachte sie, sie wollte es nicht hören. Nicht
so
. Nicht von Friedrich.
Aber als Friedrich zu erzählen begann, sagte sie nichts.
Ein Tag im Sommer vor fünf Jahren, ein Lkw im Rückwärtsgang, ein Junge auf einem gelben Fahrrad. Der Junge passte nicht auf, das Warnsignal des Lkw war defekt. Das Fahrrad schlidderte unter den Lkw, der Junge lag mit gebrochenem Genick auf dem Pflaster. Friedrich hob die Hand, zeigte die Stelle, da vorn, an der Ecke, und er hatte es gesehen, hatte hier gesessen und es gesehen. Ein gelbes Fahrrad unter einem Lkw, ein Junge auf dem Pflaster. Louise suchte Arndt Schneider mit dem Blick, fand ihn nicht. Ihr Blick kehrte zu der Ecke zurück. Ein gelbes Fahrrad, ein Junge auf dem Pflaster. Sie fragte Friedrich nach
dem Namen des Jungen, aber er kannte ihn nicht. Sie dachte an das kahle, kalte Büro, in dem sich nur das Nötigste befand. Für einen kurzen Moment glaubte sie zu begreifen, weshalb das so sein musste.
Dann kam Arndt Schneider zurück, einen Becher Kaffee und eine Papiertüte in der Hand. Friedrich nahm beides mit einer fast vertraulich wirkenden Geste entgegen, bedankte sich, öffnete eine dunkle Glasflasche, fügte dem Kaffee hinzu, was hinzugefügt werden musste. Arndt Schneider, der Polizist, Friedrich, der Wohnsitzlose, jetzt wusste sie, was die beiden miteinander verband. Wie hatte Arndt Schneider Friedrich genannt? Einen Chronisten der Banalitäten. Die Lilly vom Blumenstand hat einen Verehrer, dem Lukas ist das Toupet in die Pfütze geflogen, der kleine Junge vom Arndt ist heute gestorben ... Wieder hatte sie für einen kurzen Moment das Gefühl, dass sie Arndt Schneider verstand. Dass sie verstand, was er da tat, wenn er Friedrich erzählen ließ.
»Sie weiß es jetzt, Arndt«, sagte Friedrich.
Arndt Schneider nickte.
Louise sagte, dass es ihr schrecklich leid tue, und Arndt Schneider nickte wieder. »Es ist fünf Jahre her«, sagte er, während er sich neben sie setzte. »Es ist jetzt in Ordnung.«
»Ist es das?«
»Ja.«
Wie kann es in Ordnung sein, dachte Louise. Aber sie schwieg.
Arndt Schneider bat Friedrich um den Tabakbeutel und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er sagte, auch für seine Frau sei es jetzt in Ordnung. Sie hätten akzeptiert, was geschehen sei, hätten es weitgehend akzeptiert. Aber sie
hätten dann keine Kinder mehr gewollt. Er sah auf. Sie hatten eines gehabt, sie hatten es verloren, so war ihr Leben.
Er zündete die Zigarette an, und Louise atmete den Geruch ein, den Geruch der wilden ersten Zeit. Sie dachte an den Morgen vor siebzehn Jahren, an den sie wohl siebzehn Jahre lang nicht gedacht hatte. Ein Morgen wie viele in dieser Zeit, die geprägt gewesen war von der Erinnerung an ihren toten Bruder, dem alltäglichen Kampf in einer Männerwelt, Lust, Depression und Einsamkeit, der Frage nach dem Wofür und Wohin. An all das erinnerte sie sich gut, an Arndt Schneider kaum, und das tat auf eine merkwürdige Weise weh. Barclay James Harvest, warme hellgraue Augen, die Ahnung von einem Mann und einer Stimme, viel mehr war da nicht.
Jahre später starb ein Junge.
Sie sah Arndt Schneider an. »Drehst du mir auch eine?«
Schweigend rauchten sie, inmitten der Chrysanthemenpracht, der Passanten, der Erinnerungen. Louise spürte eine seltsame Lethargie in sich aufsteigen, die vielleicht Müdigkeit war, vielleicht etwas anderes. Ein Liebhaber aus der Vergangenheit, ein toter Junge, das war schon ein bisschen viel für einen halben Vormittag.
Alfons Hoffmann holte sie aus der Lethargie.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte er, während sie sich, das Telefon am Ohr, von Arndt Schneider und Friedrich entfernte.
Sie hatten, so sah es jedenfalls aus, herausgefunden, wie der alte Krieger in Merzhausen verschwunden war. Er hatte tatsächlich in der Kanalisation gesessen und gewartet. Hatte einen Gully geöffnet, war in den Schacht gestiegen, hatte den Gully geschlossen – und gewartet. Keine fünfzig
Meter von der Stelle entfernt, an der die Spuren geendet hatten.
»Du hattest recht«, sagte Alfons Hoffmann.
Sie nickte. Das Wort, das sie gesucht und dann gefunden hatte. Das Wort und der Gedanke, ob sie sich nicht ins Dunkel setzen und warten sollte ... Sie war mit ihren Ahnungen dichter an
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