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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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Hanni.
    Der älteste Brief war vier Jahre alt. Der jüngste drei Monate.
    Sie legte die Briefe zurück.
    Ein paar Kleidungsstücke, ein paar Badutensilien, ein paar Briefe, mehr schien es hier nicht zu geben. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Das Zimmer eines mittellosen, einsamen Mannes, der nicht mehr wusste, wo er hingehörte. Der gedacht hatte, dass er in dieses Zimmer zurückkehren würde.
    Sie würde Friedrich und Paul Niemann das Foto zeigen, das Sophie Iwanowa ihr gegeben hatte. Würde Zahnputzbecher, Zahnbürste und den Plastikrasierer in die Kriminaltechnik geben und die Fingerabdrücke von Johannes Miller mit denen vergleichen lassen, die sie im Haus der Niemanns gefunden hatten. Dann hatten sie den Beweis für das, was sie jetzt schon zu wissen glaubte.
    Johannes Miller war nicht der Mann, den sie suchten.
     
    Waldemar Kaufmann schwieg, Emma Kaufmann strahlte. Sie drückte ihr Streuselkuchen in Alufolie in die Hand, nach einem Rezept aus Engels an der Wolga, damit Sie uns nicht vergessen, Kind. Der Vorhang war wieder zugezogen, das Licht blau, die Gesichter von Waldemar und Emma waren weiß und erschöpft und unendlich alt. Sophie Iwanowa begleitete sie hinunter, brachte sie zur Straße, an den Rand des Viertels. Sie kam sich vor, als näherte sie sich der unsichtbaren Grenze zu einem anderen Land.
    Sie küssten sich auf die Wangen.
    »Sie haben mir versprochen«, sagte Sophie Iwanowa.
    »Was?«
    »Wenn Sie ihn finden, Sie warten.«
    Louise nickte.
    »Nur warten. Bitte.«
    »Er ist es nicht, Sophie.«
    »Er ist. Ich weiß.«
    Louise lächelte. »Wegen dem Omen?«
    »Ja.«
    Dann ging Sophie Iwanowa davon, eine kleine, füllige Frau im hellblauen Kostüm, die blonden Haare flogen, zurück blieb die Erinnerung an ein paar merkwürdige Momente des Ärgers, der Verwirrung. Überrascht dachte Louise, dass sie etwas von Sophie Iwanowa gelernt hatte.
    Wie es möglicherweise war, nicht dazuzugehören.
     
    Sie ging die zwei Kilometer zu Fuß, ohne zu wissen, weshalb. Vielleicht, weil sie dachte, dass sie durch das Gehen in die Gewissheit zurückkehren konnte, eben doch dazuzugehören. Eine schnurgerade Straße, die vom Kanadaring ins Zentrum führte, von der Verwirrung in die Gewissheit.
    Was für ein Blödsinn, Bonì ...
    Aber das Gehen tat gut.
     
    Irgendwo im Niemandsland zwischen Kanadaring und Zentrum ein Supermarkt, da waren die anderen Deutschen aus Russland, die jungen, für die die Aussiedlung vielleicht am schwierigsten gewesen war. Sie hatten mit ihren Autos eine Art Wagenburg gebildet, hockten auf den Kühlern, auf den Fersen, Musik lief, Flaschen gingen um, keiner ohne Zigarette. Ein paar Mädchen waren dabei, aufgetakelte späte Teenager, die Jungs mit Baseballkappen, viel Testosteron und Aggressivität. Sie hatte Lust, einfach mal hinzugehen, sich auf einen Kühler zu setzen und auch
diese
Geschichten zu hören, aber ohne Sophie Iwanowa, das wusste sie, hätte sie keine Chance gehabt. Bei den Alten nicht, bei den Jungen nicht.
     
    Sie hatte noch den Kanadaring vor Augen, als sie wieder im Zentrum stand. Die Kreuzung, auf der Arndt Schneiders Junge ums Leben gekommen war, der Duft der Chrysanthemen, all die Farben, Friedrich, der auf der Seite lag und schlief. Sie ignorierte den Gestank, kauerte sich vor ihn, berührte ihn mit der Hand.
    »Friedrich.«
    Er öffnete die Augen. »Hey, Louise.« Sein Blick war schläfrig, düster, reglos. Er setzte sich nicht auf. Sanft sagte er: »Noch mehr Fragen?«
    »Die Gravur. Kann es ›Valpovo‹ heißen?«
    Er nickte. »Hab ich die Buchstaben durcheinandergebracht, was, Louise? Und du hast es gemerkt.« Er gähnte, sie wartete. »Noch was?«
    »Ein Foto.« Sie hielt ihm die Karteikarte vor die Augen.
    »Scheiße, ein Russe.«
    »Ist er das, Friedrich? Der Mann mit dem Zigarettenetui?«
    »Das ist einer von den Russen, Louise.«
    »Ich brauche eine Antwort.«
    »Das
ist
deine Antwort.«
    Sie nickte. Alles stimmte jetzt. Auch das war ganz einfach: Friedrich würde nie mit einem Deutschen aus Russland rauchen, trinken, sprechen.
    »Hast du Hunger?«
    »Ich habe Durst, Louise.«
    Sie schmunzelte, dachte: Ich hatte auch mal ein paar Jahre Durst, weißt du. Friedrichs Blick folgte ihren Händen, als sie in die Tasche griff, Emma Kaufmanns Streuselkuchen herausnahm, vor ihn legte, die Alufolie öffnete. Vier Stücke. Nach einem Rezept aus Engels an der Wolga, Friedrich, aber so weit wird der Hass nicht reichen, dass du das siehst oder schmeckst oder

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