Im Auftrag der Väter
Essen Wange und Hände. Waldemar sagte kein Wort, aß scheu und schmatzend vor sich hin. Emma und Sophie Iwanowa gingen im Flüsterton Bekannte und Verwandte durch, Menschen mit russischen Namen, deutschen Namen, mit wunderschönen, ungewöhnlichen Namen wie Rotärmel, Beifuß, Buchsbaum, einer hieß ganz einfach Weber und war Bauer gewesen im ukrainischen Neuhoffnung, aber dann »hom’s gsagt, er wär a Kulak«, flüsterte Emma. Weber war deportiert worden und in den Gruben von Tscheljabinsk ums Leben gekommen, und seine Frau war in Neuhoffnung erschossen worden, weil sie wie von Sinnen durchs Dorf gelaufen war und dabei gerufen hatte: »Der Onkel lässt uns nicht im Stich, der Onkel wird uns helfen!« Und die Geschichte war die, dass die Erika aus Kippenheimweiler den Enkel der Webers geheiratet hatte, und die Erika kannten ja beide, Emma Kaufmann und Sophie Iwanowa, und den Enkel der Webers auch.
Neuhoffnung und Tscheljabinsk, dachte Louise, und Kippenheimweiler bei Lahr. Mit wem sie auch sprach in diesen Tagen, immer schienen unendlich weite Wege auf.
»Wissen Sie, wer der Onkel war?«, fragte Sophie Iwanowa.
»Der Onkel, der wo helfen sollt?«, sagte Emma.
Louise verneinte.
»Das war der Hitler.«
»Verstehe.«
Louise begegnete Sophie Iwanowas prüfendem Blick. Und jetzt, Louise, sagte der Blick, was denkst du jetzt von uns? Wenn sie keine Kommunisten waren, dann waren sie Nazis? Denkst du das?
Aber nein, Sophie.
Nur ein bisschen, Sophie, vielleicht.
Ja, wie dachte sie über die Deutschen aus Russland? Sie wusste es nicht. Sie waren da, drei Millionen ferne Verwandte aus dem Osten, eingepackt in ein paar ordnende Begriffe, Russen, Heimatvertriebene, Spätaussiedler, Friedland, Kanadaring – solche Begriffe.
Die Begriffe halfen beim schwierigen Unterfangen Orientierung. Dass sie vielleicht andere Geschichten erzählten als die wahren, nahm man als Mensch ohne Zeit und Gelegenheit in Kauf. Bis man die Zeit und die Gelegenheit und vielleicht sogar die Lust fand, diese Leute aus den ordnenden Begriffen auszupacken.
Mit ihnen Kartoffeln und gedämpftes Kraut zu essen.
So
ungefähr dachte sie.
Emma Kaufmann war aufgestanden, hatte schwere Vorhänge vor eines der Fenster gezogen. Im blauen Dämmerlicht trug sie ab. Sophie Iwanowa durfte helfen, Louise nicht. Louise hatte gelernt und fügte sich. Was schwierig war, ließ sich einfach machen.
Unauffällig gähnend saß sie im Halbdunkel, wurde müder und müder. Johannes Miller, Wapolwo 1945 , Friedrich und der Sliwowitz, der alte Krieger. Das waren die wichtigen Geschichten, alles andere überforderte sie gerade.
Die weiten Wege der Deutschen aus dem Osten.
Aber vielleicht, dachte sie, musste auch sie einen weiten Weg gehen, um den Mann mit der Pistole zu finden, bevor er wiederkam, in drei Tagen, in vier Tagen, je nachdem, wie er zählte.
Vielleicht auch früher oder später oder nie.
»So. Also«, sagte Waldemar Kaufmann, kratzte sich die
unrasierte Wange und schwieg. Emma Kaufmann hatte zu spülen begonnen, Sophie Iwanowa trocknete ab. Leise drang Emma Kaufmanns Stimme an ihr Ohr, das alte, fremde Deutsch, das im Osten überlebt hatte,
Das war mir gezeigt, aber hab ich nicht verstanden, Sophie ... Und die Priefung, wann soll ’se sein? ... Der, wo konnt es schreiben, der durfte ja nich’ ...
»So«, sagte Waldemar Kaufmann.
»Ich möchte mit Ihnen über Johannes Miller sprechen.«
Er nickte. »Also. Der Johannes Miller.«
Der wohnte seit vier Jahren bei ihnen, ein guter Mensch, aber das Leben hatte ihm nichts Gutes nie gewollt. Ein Mensch mit starkem Glauben. Da war er, sagte Waldemar, wie die Emmi, die hatte auch den starken Glauben. Die ging nur mit dem Kopftuch in die Kirche, weil die Bibel das so wollte. Und weil man ja nicht wusste, wie das eigentlich gemeint war im Paulusbrief an die Korinther, ging sie auch einkaufen nur mit dem Kopftuch und überallhin sonst. So einer war auch der Johannes Miller, einer mit einem starken Glauben. Er hatte die Tischgebete vorm Essen gesprochen, hatte mit Emma morgens und abends Andacht gehalten, mit ihr gesungen, die alten Lieder aus dem Osten, »Jesus geh voran«, »Meine Heimat ist dort in der Höh’«. Drei-, viermal die Woche war er in die Kirche gegangen. Ein guter Mensch, dem das Leben nichts Gutes gewollt hatte, so war der, und jetzt war er weg, und eine Polizistin war da.
Die Polizistin legte ihm die Hand auf den Arm. Vielleicht war der Johannes Miller ja gar nicht der, den sie suchten,
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