Im Auftrag der Väter
offensichtlich, dass Paul Niemann sein Leben in München schützte, dass er einen Wall der Verklärung um München errichtet hatte, den er auf seine kraftlose Art unerbittlich verteidigen würde.
Sie formte das Wort »München« mit den Lippen. Mats Benedikt bewegte den Kopf abwägend hin und her, die Augen hinter der Brille blieben nachdenklich. Er berührte ihren Arm, und sie nickte, also gut, mach du mal.
Er fragte die Niemanns, ob sie Verbindungen ins ehemalige
Jugoslawien hätten. Ob sie einmal dort gewesen seien. Kontakt zu Menschen von dort hätten oder gehabt hätten. Seine ruhige, neutrale Stimme entspannte die Atmosphäre, schuf Ordnung, war ganz Rücksicht auf die Opfer. Keine Spur von Mitleid oder Ärger, nur Professionalität. Keine Ahnungen, in denen sich die Ordnung hätte verheddern können. Einen Augenblick lang wünschte Louise, sie wäre allein gekommen. Aber sie wusste, dass Mats Benedikt nicht nur den Niemanns gut tat, sondern womöglich auch ihr.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Mats Benedikt. »Denken Sie nach. Was verbindet Sie mit dem ehemaligen Jugoslawien? Ein Urlaub, eine Person, vielleicht ein Nachbar. Ein Schulfreund, ein Kollege, ein Freund Ihrer Eltern. Vielleicht waren Sie als junge Leute auf einer Demonstration gegen Tito. Oder für Tito.«
Louise schmunzelte. Mats Benedikt lächelte.
»Er ist Russlanddeutscher«, sagte Paul Niemann. »Er hat wie ein Russlanddeutscher gesprochen.«
Mats Benedikt ging nicht darauf ein. »Vielleicht waren Sie politisch engagiert. Denken Sie an die Neunzigerjahre, die Balkankriege. Die NATO -Einsätze, den Kosovo. Auch da gab es Demonstrationen. Vielleicht sind Sie auch nur irgendwann mal durch Jugoslawien gefahren, um in Griechenland Urlaub zu machen, und sind dabei irgendjemandem begegnet. Herr Niemann?«
Paul Niemann zuckte die Achseln, wieder ganz Ratlosigkeit, wieder glaubte Louise ihm die Ratlosigkeit.
»Irgendetwas«, sagte Mats Benedikt. »Irgendjemand. Vor ein paar Monaten, ein paar Jahren, ein paar Jahrzehnten.«
Henriette Niemann schüttelte den Kopf. Paul Niemann zuckte die Achseln.
Mats Benedikt nickte. »Welche Verbindung gibt es zwischen Ihnen und dem ehemaligen Jugoslawien?« Er sagte es so sanft und gelassen, als wollte er diese Frage ein ums andere Mal wiederholen, bis er eine befriedigende Antwort bekommen hatte.
»Jugoslawien oder Kroatien?«, murmelte Henriette Niemann.
»Jugoslawien. Valpovo spielt vielleicht eine ganz andere Rolle, das wissen wir nicht. Die Länder des ehemaligen Jugoslawien. Slowenien. Kroatien. Serbien und Montenegro. Bosnien und Herzegowina. Der Kosovo. Habe ich alle? Mazedonien. Wo ist die Verbindung? Herr Niemann?«
Paul Niemann räusperte sich. »Es gibt keine. Wir waren nie in Jugoslawien. Wir kennen niemanden von dort.«
Louise musterte noch immer Henriette Niemann. Ihre Stimme, ihr Blick hatten sich kaum merklich verändert. Sie hatte die Augen zusammengekniffen, wirkte fast ein wenig erschrocken, genau wie am Montag, als sie gesagt hatte, sie werde ihren Mann verlassen, wenn die Kinder eines Tages aus dem Haus seien.
Henriette Niemann begann zu begreifen.
»Es muss eine Verbindung geben«, sagte Mats Benedikt. »Denken Sie nach. Vielleicht eine kurze Begegnung, die für Sie nicht weiter von Bedeutung war, für irgendjemand anders schon. Das muss nicht unser Mann gewesen sein. Es kann
irgendjemand
gewesen sein. Denken Sie nach. Erinnern Sie sich. Was verbindet Sie mit dem ehemaligen Jugoslawien? Herr Niemann?«
»Ich ...« Wieder ein Räuspern, dann Schweigen.
»Ja?«
»Nichts. Gar nichts.«
»Frau Niemann?«
Henriette Niemann schüttelte stumm den Kopf.
Mats Benedikt sah Louise an, wollte sich vergewissern, dass sie ihm das Feld weiterhin überließ. Sie nickte, überlegte, ob er spürte, dass sich in Henriette Niemann etwas verändert hatte. »Gut«, sagte er. »Versuchen wir es einmal anders. Woran denken Sie, wenn Sie an Jugoslawien denken? Was fällt Ihnen als Erstes ein? Frau Niemann?«
Henriette Niemann zögerte. »Der Krieg.«
»Der Krieg in den Neunzigern?«, fragte Mats Benedikt.
»Der Bosnienkrieg.«
Louise sah Mats Benedikt an. Ein Schauer lief ihr über Rücken und Arme. Ein alter Krieger, ein Krieg. Und eine Verbindung zu den Niemanns?
»Der Bosnienkrieg«, wiederholte Mats Benedikt ruhig. »Herr Niemann?«
Paul Niemann antwortete nicht. Er hatte sich abgewandt, sah wieder nach draußen, auf die graue fensterlose Wand des Nachbargebäudes. Seine Augen waren halb
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