Im Auftrag der Väter
geschlossen, die Hände klammerten sich in seinem Schoß aneinander.
»Herr Niemann?«
Keine Antwort. Louises Herzschlag beschleunigte sich. Sie wusste, dass sie kurz davor standen, Antworten zu bekommen. Und sie wusste, dass sie diese Antworten nicht von Paul Niemann hören würden.
»Sag es ihnen, Paul«, murmelte Henriette Niemann. Ihr Blick war ebenfalls auf das Fenster gerichtet.
Paul Niemann schwieg. Louise widerstand dem Impuls, zu ihm zu treten, ihm die Hand auf die Schulter zu legen, ihm zu sagen, dass er sprechen
musste
, wenn er die Achtung seiner Frau nicht verlieren wollte, spüren Sie denn nicht, dass es für Ihre Frau nur noch darum geht?
Paul Niemann schloss die Augen.
Henriette Niemann sagte: »Er denkt an die Bosnier.«
»Die Bosnier?«, fragte Mats Benedikt.
»Die bosnischen Kriegsflüchtlinge.«
»Er hatte in München mit ihnen zu tun? Im Sozialreferat?«
Henriette Niemann sah ihren Mann an. »Paul.«
Paul Niemann schwieg.
Henriette Niemann erhob sich. »Kommen Sie.«
»Gleich«, sagte Louise.
Mats Benedikt nickte und folgte Henriette Niemann, die das Zimmer bereits verlassen hatte.
Louise berührte Paul Niemanns Schulter. Er hob den Blick zu ihr, sagte: »Nein, nein, ausgeschlossen.«
»Ich weiß.«
Paul Niemann nickte. Sie spürte, dass er zitterte.
»Ich weiß«, wiederholte sie, dann ging sie zur Tür, an den Porträts von Henriette Niemanns Bruder vorbei, der am Ende der Serie ein anderer war als am Anfang, und sie dachte, dass es eben so kam, dass sich die Vergangenheit veränderte, je mehr Zeit verstrich. Sie fragte sich, ob das auch für den alten Krieger galt oder ob es für ihn gerade nicht galt. Ob sich ein Moment der Schmerzen so in sein Gedächtnis gegraben hatte, dass sich dieser Moment nie verändern würde. Dass die Schmerzen nie nachlassen würden.
Sie kehrten in die Küche zurück. Henriette Niemann füllte drei Tassen mit Kaffee, stellte Milch auf den Tisch, zögerte. Louise lächelte. Der Zucker. Henriette Niemann zuckte die Achseln, setzte sich. Sie war blass, wirkte gefasst, entschlossen. Die Entscheidung war gefallen, das letzte Band zerrissen.
Wenn die Liebe vorbei war, das war das eine. Wenn man sich entschieden hatte zu gehen, das war das andere.
Dann sprach sie.
Paul Niemann war Ende der Neunzigerjahre für zwei oder drei Monate zur Ausländerbehörde des Kreisverwaltungsreferates München abgestellt worden. Die Stadt hatte nach Inkrafttreten des Dayton-Abkommens angefangen, die kroatischen und bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge in ihre Heimat zurückzuschicken, aber es waren so viele gewesen, dass die Ausländerbehörde Personal aus den anderen Referaten hatte anfordern müssen. Manche von ihnen waren zwangsverpflichtet worden, darunter Paul Niemann. Er hatte im Mai oder Juni 1998 angefangen, war im Sommer krank geworden, nach seiner Genesung ins Sozialreferat zurückgekehrt. Sie hatten nie darüber gesprochen, doch Henriette Niemann wusste, dass es ihm schwergefallen war, Menschen, die in ihrer neuen, sicheren Heimat hatten bleiben wollen, in die alte, zerstörte Heimat zurückschicken zu müssen.
Wie die Rückführung der Kriegsflüchtlinge genau abgelaufen war beziehungsweise welche Aufgaben Paul Niemann gehabt hatte, wusste sie nicht mehr. Sie wusste noch, dass die Abteilung »Sachgebiet 312 BKF « geheißen hatte und nicht im Hauptgebäude des Kreisverwaltungsreferates angesiedelt gewesen, sondern nach Giesing in die Untersbergstraße ausgelagert worden war. In Giesing hatten mehr als vierzig Sachbearbeiter gesessen, auch Paul Niemann, und Entscheidungen treffen müssen, ohne die Menschen, über deren Schicksale sie zu entscheiden hatten, jemals zu Gesicht zu bekommen – Publikumsverkehr hatte es nur im Hauptgebäude gegeben. Dorthin waren die Flüchtlinge gekommen,
dort hatten sie die erneute Verlängerung des Bleiberechts beantragt, dort hatten sie alle legalen und weniger legalen Umstände vorgetragen, die ihnen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht ermöglichen sollten. All das hatten die Sachbearbeiter in der Untersbergstraße lediglich anhand weiterer Formulare mitbekommen.
Henriette Niemann war aufgestanden, ging in der Küche herum, öffnete Schubladen, Schranktüren. Als sie zum Tisch zurückkam, hielt sie eine brennende Zigarette in der Hand. »Meine Schwägerin hatte nur noch eine, und die brauche ich jetzt«, sagte sie entschuldigend.
Louise nickte, dachte: Ein alter Krieger, ein Krieg, eine mögliche Verbindung zu Paul
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