Im Auftrag der Väter
zumindest eines schon mal klar: Weder Biljana noch Snježana Lončar waren in Štrpci, das im serbischen Teil Bosnien und Herzegowinas lag, geboren worden, sondern im kroatischen Poreč. Weshalb die Lončars auf dem Personenbogen der Münchner Ausländerbehörde falsche Angaben gemacht hatten, lag auf der Hand. Bosnische Staatsbürger hatten nach der damaligen Lage damit rechnen
können, als Flüchtlinge in den Aufnahmeländern besser behandelt zu werden als kroatische.
»Hat Illi gesagt, wo Poreč ist?«
»Nein, ich glaub nicht.«
»Hast du eine Landkarte?«
»Du meinst, aus Papier?«
»Aus was sonst?«
»Aus Nullen und Einsen.«
»Aus was auch immer, Alfons.«
Sie hörte Papier rascheln, Alfons Hoffmanns Kichern, seine kurzen Atemzüge, die unmöglich genug Sauerstoff tief genug in seinen mächtigen Leib transportieren konnten. Dann hämmerte er grunzend im Zweifingersystem auf die PC -Tastatur ein, dann hatte er Poreč gefunden, es lag an der kroatischen Küste.
»Welche Region?«
»Region?«
»Ist es in Slawonien?«
»Slawonien?«
»Alfons, bitte ...«
»Entschuldige, ich bin heute ... Ich hab schlecht geschlafen.« Er hämmerte erneut, nein, Poreč lag in Istrien. »Warte mal.«
Sie wartete.
Während er klickte und hämmerte, sagte er, dass eben der Bericht der Techniker zu den Fingerabdrücken von Johannes Miller gekommen war. Negativ, natürlich, sie wussten es längst.
Sie nickte stumm. Johannes Miller, Friedental/Friedland.
Jemand musste Sophie Iwanowa informieren.
Sie bat Alfons Hoffmann, das zu übernehmen. Sie hatte keine Lust auf die Scherze Sophie Iwanowas.
»Poreč«, murmelte Alfons Hoffmann. »Warte mal.«
Sie seufzte ungeduldig. Wartete.
»Es gibt zwei.«
»Zwei Poreč?«
»Ja. Eins an der Küste und eins ...« Das Hämmern, das Schnaufen, ein Brummen, ein »Aha!«.
»In Slawonien«, sagte Louise.
»Ja.«
»Und dort sind sowohl Biljana als auch Snježana geboren worden.«
Alfons Hoffmann schnaufte und hämmerte und sagte nichts.
»Was heißt das?«
»Hm?«
»Dass Lončar vermutlich eine Weile in Poreč gelebt hat.«
»Mhm.«
»Poreč in Slawonien.«
»Mhm.«
»Alfons.«
Alfons Hoffmann entschuldigte sich erneut, das Hämmern brach ab. Über einen Link aus der Ergebnisliste zu Poreč war er auf einer australischen Website gelandet, auf der günstige Rundreisen angeboten wurden, und er wollte doch so gern mal nach Australien, auch wenn er wusste, dass er nie hinfahren würde, weil seine Frau Urlaub nur in der niederbayerischen Heimat zuließ, und deshalb hatte er schlecht geschlafen, weil er da in wenigen Tagen wieder hin musste. »Immer Plattling«, sagte er. »Wie soll man da was von der Welt sehen?«
Sie schüttelte entnervt den Kopf. Bermann im zweiten Frühling, Alfons Hoffmann im vierten – Männer. Alle gleich, alle berechenbar, alle auf ihre Weise lächerlich. Zwar
hin und wieder süß, aber selten, und ganz bestimmt nicht an Tagen wie diesem, an denen womöglich ein Menschenleben in Gefahr war.
Sie parkte eben vor dem Haus der Schwägerin in Au, als Alfons Hoffmann erneut anrief. Thomas Ilic hatte sich wieder gemeldet. Aus Banja Luka waren weitere Neuigkeiten eingetroffen.
Biljana und Snježana Lončar waren tot. Gestorben 1999 in Štrpci, wenige Monate, nachdem sie aus Deutschland zurückgekehrt waren.
Louise zog den Zündschlüssel heraus, lehnte sich zurück. Ihr Blick lag auf dem alten, leicht heruntergekommenen Haus unter dem dunklen Dach. Sie glaubte, hinter einem der Fenster eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Aber der Regen mochte sie getäuscht haben.
Aus München abgeschoben 1998 , in Štrpci gestorben 1999 .
Da war er, der Moment der Schmerzen.
Ein
Moment. Denn sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass dies alles Jahrzehnte vor 1999 begonnen hatte. Der alte Krieger, Antun Lončar, war nicht erst 1999 zu dem geworden, was er heute, fünf Jahre später, war. Er war es sein ganzes Leben hindurch gewesen.
Valpovo 1945 , dachte sie, das war vielleicht der Anfang. Ein Krieg, ein Lager. Dann ein Leben als Deutscher im Jugoslawien Titos, vielleicht benachteiligt, vielleicht angefeindet, vielleicht in irgendeiner Form versteckt. Die Neunzigerjahre, wieder ein Krieg, die Flucht nach Deutschland mit Frau und Tochter. Die Abschiebung, die Rückkehr nach Štrpci, jenen Ort, in dem er geboren worden war.
Dann starben die Frau und die Tochter.
Valpovo 1945 der Anfang der Geschichte, Štrpci 1999 das Ende, Merzhausen 2004 war der
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