Im Auftrag der Väter
Handy-Melodie erklang. »Illi« stand auf dem Display, ganz wie in alten Zeiten, und das war ihr schon wieder zu viel Ähnlichkeit mit dem Sommer 2003 .
Sie ging in den Flur zurück, sagte: »Nur telefonieren, Illi, hörst du?«
Thomas Ilic lachte leise. »Ja, ja, ja.«
»Das ist mein Ernst.«
»Ist auch anstrengend genug.«
Sie setzte sich auf die Treppe, Stufen aus dunklem, sprödem Holz unter einer dunklen, spröden Holzdecke. Nichts Helles in diesem Haus, nichts Freundliches. Carola war im Gästezimmer geblieben, sie hörte sie mit ihrem Vater sprechen, hörte Paul Niemann antworten. Unter sich konnte sie durch die geöffnete Küchentür den riesigen Tisch sehen. Henriette Niemann war aufgestanden, sie hörte sie herumgehen, Schubladen öffnen und schließen, dann, plötzlich, kein Geräusch mehr.
»Also, was hast du?«
»Biljana und Snježana«, sagte Thomas Ilic.
»Warte ...
Wie
spricht man das aus?«
Thomas Ilic wiederholte es. Snjeschana. Irgendetwas mit Schnee, »Schneewittchen«, könnte man sagen. »Übrigens, ein
lončar
ist ein Töpfer.«
»Und dieser Ort in Bosnien? Wie spricht man den aus?«
»Schtrp-zi.«
»Aha.«
»Ist ganz einfach.«
»Na ja.«
»Wir sprechen die Buchstaben eben anders aus als ihr.«
Louise sagte nichts, dachte nur: als ihr.
Man war mal Deutscher, mal nicht.
Thomas Ilic wurde, so kam es ihr vor, während seiner Krankheit mehr und mehr zum Kroaten. Sie erinnerte sich, dass er einmal erzählt hatte, sein Vater, in Kroatien geboren, sei in all den Jahren Deutschland immer kroatischer geworden.
»Und zwar?«
»Jeden für sich. So wie er dasteht. Ein ›c‹ ist ein ›c‹, aber nie ein ›k‹. Zum Beispiel.«
»Ah. Das ist schon okay.«
»Danke.«
Sie lachten.
»Also«, sagte Thomas Ilic. Biljana und Snježana, erschossen 1999 im Dorf Štrpci im serbischen Teil von Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska, vermutlich von ehemaligen Milizionären. »Vermutlich«, weil niemand etwas Genaues wusste oder sagen wollte und sich die Morde höchstwahrscheinlich nie aufklären lassen würden. Gerade in Bosnien, sagte Thomas Ilic, sei es häufig so, dass die Menschen wüssten, wer im Krieg ihren Vater, ihren Sohn erschossen, ihr Haus gesprengt habe, denn oft genug seien es ehemalige Nachbarn oder Freunde oder Bekannte gewesen. Doch man schweige. Das Wissen werde so lange aufbewahrt, bis es bedeutungslos geworden sei – oder einen neuen Krieg hervorrufe. »Aber wie kann es jemals bedeutungslos werden, wer deinen Vater ermordet hat?«, fragte Thomas Ilic.
Louise nickte schweigend. Unter ihr, in der Küche, unsichtbar, unhörbar, Henriette Niemann, über ihr, im Gästezimmer, Carola und Paul Niemann, die ebenfalls nicht mehr sprachen.
Sie wünschte, die Niemanns hätten sich einverstanden erklärt wegzugehen. Sie konnten doch nicht bleiben. Darauf warten, dass der alte Krieger sie fand.
»Was die bosnischen Kollegen wissen, ist, dass sie mehrmals bei ihm waren.«
»Wer bei wem?«
»Die Mörder bei Lončar und seiner Familie.«
Die Mörder waren wohl zweimal gekommen, ohne dass etwas vorgefallen war, hatten vielleicht, dachte Louise, ein Ultimatum gestellt wie Antun Lončar Jahre später Hunderte Kilometer entfernt. Beim dritten Mal hatten sie das Haus in Brand gesteckt. Beim vierten Mal ... Die Familie hatte in einer kleinen, leerstehenden Scheune Zuflucht gesucht. Die Männer hatten sie gesucht, gefunden, Antun Lončars Frau und Tochter vergewaltigt und erschossen.
Louise fuhr sich mit der Hand über die Augen. Was für ein Schicksal.
Vielleicht auch nur ein ganz normales Schicksal aus einem ganz normalen Krieg.
Nach
einem ganz normalen Krieg.
Warum all das geschehen war, warum die Männer Antun Lončar am Leben gelassen hatten, fuhr Thomas Ilic fort, ließ sich nicht sagen. Auch das vielleicht eine bosnische Begebenheit, die nie geklärt werden würde.
Das also war die Geschichte. Antun Lončar tat Paul Niemann das an, was ihm selbst angetan worden war. Paul Niemann, der die Familie aus der sicheren neuen Heimat in die gefährliche alte zurückgeschickt hatte, weil das die Gesetze für die Rückführung bosnischer Kriegsflüchtlinge so verlangt hatten. Jahre später war Lončar nach Deutschland zurückgekehrt, hatte ihn auf irgendeine Weise aufgespürt, war in sein Haus gekommen. Hatte ihm erst Ruhe und Sicherheit genommen, hatte ihm dann das Zuhause genommen, wollte ihm jetzt vielleicht die Familie nehmen.
»Aber warum hat er fünf Jahre
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