Im Auftrag des Tigers
Allmächtige deinen Vater zu sich rief, dies alles an dich übergegangen ist.«
»Woher will er wissen, daß mein Vater tot ist?«
»Alle sagen es.«
Sie nickte. »Aber niemand weiß es«, sagte sie und stieg wieder in den Landrover.
Achmed schloß die Kühlerhaube, setzte sich neben sie. Er blickte sie lange an, seufzte und startete den Motor.
Er fuhr langsam, um den Wagen zu schonen. Als sie die Hochfläche erreichten, hatte die Sonne den Nebel endgültig verscheucht. Bäume und Riesenfarne rückten an die Straße heran. Ab und zu waren in den Lichtungen kleine Kampongs zu erkennen. Auf naßglänzenden Stelzen drängten sich die Häuser zusammen, als versuchten sie, sich gegenseitig zu schützen.
Achmed sang nicht länger. Er sprach auch kein Wort. Schließlich rollten sie über eine Kuppe und konnten zur Linken den hohen, dunkelgrünen Fries des Waldes sehen. »Fremde Chinesen aus Taiwan sind gekommen«, sagte Achmed. »Company-Leute. Sie planen große Straßen. Nicht hier. Noch nicht. Unten im Sadak-Gebiet.«
Unten im Sadak-Gebiet? Um den Berg Sadak schloß sich das Kernland von Tenenga! Sie konnte nicht glauben, was sie gehört hatte.
»Woher weißt du das?«
»Für wie dumm hältst du mich? In letzter Zeit brauche ich ja gar nicht mehr so oft hier rauf nach Moong wie früher. Ich kenne die Leute. Ich habe sogar meinen Repräsentanten. Der bringt die Ware …«
Er grinste stolz. »Tinu heißt er. Und einer seiner Söhne ist ein halber Ipak. Er spricht fließend die Sprache des Waldes. Die anderen übrigens auch. Sie holen mir die Ware. Bei den Panan zum Beispiel.«
Von dem Stamm der Ipak hatte ihr Vater ihr oft erzählt. Monatelang war er mit den Nomaden durch den Dschungel gestreift. Die Ipak hatten auf seinen Rat ein Langhaus in der Nähe der Station gebaut, doch sonst waren sie ihrem alten Leben, der Jagd, treu geblieben. Sie hatten ihn geliebt. ›Großer Tiger-Schrei‹ hatten sie ihn genannt. Das hatte ihn mit Stolz erfüllt: »Stell dir vor, irgendwo im Wald nennen sie mich ›Großer Tiger-Schrei‹ und reden von meinen Heldentaten«, hatte er später in New York immer wieder gesagt.
»Und was ist mit dieser Company?«
»Was soll denn sein? Das Übliche. Sie bauen ein riesiges Lager, unten, da wo die Flüsse zusammenfließen. Sie holen die Meranti-Stämme mit Hubschraubern aus dem Wald, bringen sie ins Lager und flößen sie abwärts, soweit das nun mal geht. In der Gegend von Nati, am Sadak-Berg, gibt es eine Barriere. Bis dorthin haben sie den Straßenbau bereits vorangetrieben. Es heißt, daß sie die ganze Barriere in die Luft sprengen wollen, damit der Abtransport billiger wird.«
In der Hitze des Tages vermochte nicht einmal der Wind den Schweiß auf Mayas Kopfhaut zu trocknen. Sie spürte, wie ihr das Hemd am Leib klebte, und dennoch: Etwas tief in ihr ließ sie frösteln.
Sie gab keine Antwort. Wieso auch? Es war immer dasselbe: Holzschlag. Logging. Blindwütige Regenwald-Vernichtung … Tausendmal hatten sie es diskutiert.
Doch nun gab es einen entscheidenden Unterschied: Der Frevel fand im Tenenga-Gebiet statt. Und sie hatten die Straße bereits bis zu den Nati-Felsen vorgetrieben …
Bei den Nati -Felsen gab es eine Insel. Waldmenschen, Männer vom Ipak -Stamm, hatten ihren Vater und sie vor Jahren dort hingebracht. Drei Boote waren es gewesen. Mit sechs Ipaks waren sie tagelang unterwegs. Endlich, eines Abends, tauchte die Insel auf. Rotleuchtender Nebel hing über dem braunen Wasser. Und dann hatten die Ipaks plötzlich die Paddel eingezogen. Lautlos trieben die Boote dahin, keiner sagte einen Ton, nur das Rauschen und Plätschern des Wassers war zu hören.
Schließlich sah es auch Maya: ein Tiger! Ein Tiger, der im Wasser schwamm. Langsam, mit vollkommen gelassenen, kraftvollen Bewegungen strebte er dem Ufer zu und zog eine keilförmige Spur hinter sich her. Nur der Kopf war zu sehen. Er war ihr sonderbar hell erschienen.
Als er am Ufer zwischen den Blättern verschwand, riefen sich die Ipaks aufgeregte Worte zu.
»Was sagen sie?«
»Die Weiße«, sagte ihr Vater. »Wir sind der Weißen begegnet.«
»Welcher Weißen?«
»Ein weißer Tiger«, hatte ihr Vater erklärt. »Unter den Tigern hier muß es eine genetische Variante geben, ein Blutstrom, der sehr helle Tiere hervorbringt. Die eminent kräftig sind. Ich habe auch schon oft von der Weißen gehört, auch von anderen weißen Tigern, ihren Söhnen. Für die Ipak sind Tiger ungemein wichtig. Sie sind Schutzgeister.
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