Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Zum allgemeinen Erstaunen halfen Rakels Rezepturen, deren Zusammensetzung Leah der Greisin abrang, sich einprägte und die sie dann alle gemeinsam einer Prüfung unterzogen, tatsächlich. Salomas allmorgendliche Übelkeit, Hannahs Monatsbeschwerden und ein Winterfieber, das durch Ugarit gefegt war – alles halb so schlimm dank Rakels Kräuterrezepturen.
Jetzt hofften sie, dass Leah die Tante dazu brachte, sich an die genauen Mengen der Zutaten für das Mittel gegen die Fallsucht zu erinnern. Die Situation der Familie hatte sich derart verschlechtert, dass sich Elias bereits mit dem Gedanken trug, das Weingut zu veräußern.
Während Fliegen in der feuchten Luft umherschwirrten, Bienen und gelegentlich auch eine von Blumenduft erfüllte Brise ins Sonnenzimmer drangen, sann Leah darüber nach, wie sie es am geschicktesten anstellte, um der Tante die gesuchte Rezeptur zu entlocken. Aber irgendwie wich die Tante immer wieder aus, sprang von einem Thema zum anderen, manchmal innerhalb eines Satzes. So aufgekratzt und redselig sie sich auch gab, schien sie zusehends abzubauen. Sie nahm nicht länger ihren Morgentrank zu sich, aß weniger, rührte schon seit Tagen keinen Wein mehr an. Dazu wirkte ihre Gesichtsfarbe besorgniserregend fahl, und ihre Augen waren mit einem milchigen Schleier überzogen.
Leah dachte an David, der sich gerade auf die morgige Zeremonie zum ersten Aufgehen des Morgensterns, in der Dämmerung vor Sonnenaufgang, vorbereitete, dem Zeitpunkt, zu dem der alte Rab seinen Nachfolger bestimmen würde. Ganz Ugarit blickte zum Haus des Goldes; jeder wusste, dass sich die Belange der Bruderschaft auf die der Stadt auswirkten. Ohne des Lesens und Schreibens Kundige war ein Regieren undenkbar, und ohne Regierung würde Chaos ausbrechen. Dementsprechend gespannt war man auf die Entscheidung des alten Rabs. Obwohl mehrere Kandidaten in Frage kamen, rechnete man damit, dass Yehuda das Rennen machen würde. Die letzte Entscheidung lag jedoch bei den Göttern, weshalb sich der alte Rab in Erwartung ihrer Antwort tief ins Gebet und in Meditation versenkt hatte.
Gesegnete Asherah, flehte Leah im Stillen, mach, dass die Götter für David stimmen, damit er die kränkelnde Bruderschaft gesund macht und sie auf den Weg ihres ruhmreichen Wirkens zurückführt. Wenn die Wahl auf Yehuda fällt, wird das schlimme Folgen für sie haben.
»Als Daumenregel«, ließ sich Tante Rakel jetzt vernehmen, »gilt Folgendes: Von der Mischung aus Mandeln, Feigen und Datteln nimmst du jeweils eine Handvoll – das ist eine Maßeinheit. Vier dieser Maßeinheiten vermischst du mit Molochs Traum, dann hast du das Heilmittel gegen Fallsucht.«
Vier verblüffte Gesichter wandten sich ihr zu. Auch Leah war sprachlos. War dies eine Antwort auf ihr eben an Asherah gerichtetes Gebet? Hatte die Göttin dem Erinnerungsvermögen der Tante nachgeholfen? Wenn dies wirklich das Heilmittel ist und ich es umgehend Yehuda zukommen lasse, braucht Vater nicht seine Weinkellerei zu verkaufen. Wenn aber Yehuda dann gesundet, wird David nicht der Nachfolger des alten Rabs, und in der Bruderschaft wird es so korrupt weitergehen wie bisher.
Gesegnete Asherah, was soll ich nur tun?
Während Hannah und Esther und Saloma weiterhin sprachlos verharrten, legte Leah ihre Näharbeit beiseite und wandte sich Rakel zu. »Tante Rakel, und wie viele Maßeinheiten von Molochs Traum mischen wir dann in …«
Avigail, die durch die Reihen der Rebstöcke ging, die sich wie ein Teppich über dem Hang hinter der Villa ausbreiteten, entdeckte ihren Sohn im Gespräch mit einem Kaufinteressenten für den Weinberg – dem achten, der sich das Grundstück ansah. Und der jetzt den Kopf schüttelte.
Als sie näher kam, sagte der Fremde gerade: »Was ist mit dem Haus?«
»Das Haus behalten wir«, sagte Elias zu dem Mann aus Ebla. »Ich verkaufe nur die Weinberge und die Kellerei.«
»Tut mir leid, mein Freund, aber warum sollte ich ein Anwesen kaufen, auf dem ich nicht wohnen kann? Wie kann ich da ein Auge auf die Rebstöcke haben, mir Diebe vom Leib halten, unbefugtes Betreten unterbinden? Solltest du dich wegen des Hauses anders besinnen, kannst du mir ja in die Taverne Zum Blauen Reiher am Hafen eine Nachricht zukommen lassen.« Damit ging er.
Mit sorgenvollem Gesicht blieb Elias zurück. Avigail sah, wie er in der gleißenden Sonne zu den weißen Mauern blinzelte, die die verschiedenen Gebäude umgaben. Sein Zuhause. Sein Blut und sein Schweiß wie auch das Blut
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